Modernisierung oder Islamisierung?

Bernard Lewis’ Vorlesungen zur Geschichte und Kultur im Nahen Osten

Balduin Winter

Seit einigen Jahren führt das Wiener "Institut für die Wissenschaften vom Menschen" Vorlesungen zur modernen Philosophie durch. 1999 las Bernard Lewis von der Princeton University, ein ausgewiesener Nahostkenner, zur Geschichte und Kultur dieses Raumes. Sein Ausgangspunkt in Kultur und Modernisierung im Nahen Osten ist die Geschichte des Osmanischen Reiches. Dabei interessiert ihn zunächst, wie sich in der Historiografie der Muslime die Beziehungen zum christlichen Europa spiegeln. Niederlagen wie die der Mauren in Spanien (1492), die erfolglose Belagerung von Wien (1529), die verlorene Seeschlacht von Lepanto gegen Venedig (1571) werden als Nebensache zur Kenntnis genommen. Erst die Wende 1683 vor Wien und die folgende Niederlagenkette wird als verheerendster Schlag seit Existenz des Reiches registriert. Die folgende Patt-Situation wird 1783 beendet durch den Verlust von osmanischem Kerngebiet, der seit Jahrhunderten muslimischen Chanate auf der Krim. Daraufhin setzt eine Debatte ein: "Was haben wir falsch gemacht? – Wie bringen wir die Sache in Ordnung?" Fest steht, dass die Barbaren, die bisher wenig zu bieten hatten, Fortschritte gemacht haben, dass man ihr Staatswesen und ihre Kriegskunst studieren muss. Damit beginnen bestimmte Formen der ost-westlichen Beziehungen. Lewis zeigt frühe Träger und Bereiche dieser Beziehungen auf, unter anderem die Neuorganisierung des Militärs durch einen französischen Adeligen oder die Einführung der Druckerpresse durch einen ungarischen Seminaristen. In dieser frühen Phase kommt den nichtmuslimischen Minderheiten (Juden, Griechen, Armenier) eine tragende Rolle als Dolmetscher, Mediziner und Militärfachleute zu. Im 19. Jahrhundert scheint sich in der islamischen Welt allmählich die Erkenntnis durchzusetzen, sich militärisch gegen die europäischen Großmächte nicht behaupten zu können.

Man müsse die Ungläubigen nachahmen. Mehr noch. Früher konnte man Erfindungen des Abendlandes adaptieren, da die muslimische Zivilisation ein Niveau hatte, mühelos das andere zu integrieren. Inzwischen aber hat der Westen eine Entwicklung vorgelegt, der gegenüber der Orient in Rückstand geraten ist: "Es ging bereits um mehr als bloß darum, sich zu modernisieren. ... etwas anderes war, bei Lehrern der Ungläubigen Unterricht zu nehmen." Damit wurde die Frage, "was haben wir falsch gemacht", erweitert um die Frage, "was haben die richtig gemacht?" Hier liegt wohl die Wurzel der Auseinandersetzung zwischen Reformern und Traditionalisten, zwischen Modernisierern und Fundamentalisten.

Lewis weist auf einige Grundlinien dieses lange währenden Streits hin, ebenso auf die großen Probleme, die erkannten Unterschiede zwischen islamischer und christlicher Welt auch richtig zu interpretieren. Das Verständnis für Ökonomie oder staatliche Verwaltung wird unterfüttert von einem System ethischer und politischer Wertevorstellungen, die über Jahrhunderte hinweg gänzlich verschieden sind. Lewis führt an, dass wir im Westen gewöhnt sind, Regierungen nach dem Gegensatz von Tyrannei/Freiheit zu unterscheiden, während für den traditionellen Muslim das Gegenteil von Tyrannei jedoch Gerechtigkeit lautet. Begriffe, die wir für universal setzen, existieren zwar, haben jedoch einen anderen Stellenwert. Überhaupt scheint sich der Nahe Osten in einer angespannten Widerspruchslage zu bewegen. Manche Modernisierungsangebote nimmt er vollständig an, manche teilweise, manche lehnt er ab. Umstritten und oft von Land zu Land sehr unterschiedlich gehandhabt ist die Rolle der Frau, bereitwillig übernommen worden sind Literaturformen und bildende Kunst, während die westliche Orchestermusik außen vor geblieben ist. In den Wissenschaften wiederum, einst eine glänzende Domäne des Orients, schneidet der Nahe Osten heute "denkbar schlecht" ab. "Zum ersten Mal in der Geschichte", fasst Lewis zusammen, "ist Innovation hauptsächlich eine Sache des Westens, und ihr Einfluss bewegt sich nach Osten, auf eine mittlerweile absehbare universale Kultur hin."

In seinem Ausblick "Modernisierung oder Islamisierung?" spekuliert Lewis über die Perspektiven des islamischen Raumes. Er orientiert sich an Ideologien – dafür stehen die Türkei als Modell für die Kemalistische Revolution und den Weg zur Modernisierung und der Iran als Modell für die islamische Revolution und die Rückkehr zum unverfälschten Islam. Dazwischen sieht er eine Reihe unterschiedlicher Ausprägungen und sogar Mischformen. Ohne Erdöl und Erdgas, stellt er fest, liegt der Wert der Exporte der arabischen Welt unter dem Exportwert Finnlands; nur die Türken mit geringen Erdölquellen haben eine eigene Wirtschaft aufgebaut. Oder anders gesagt: Die Region ist ein ökonomisches Pulverfass, umschwirrt von Großmächten und potenziellen Großmächten, mit Russland, Indien und vor allem China wird man rechnen müssen. Offen bleibt, ob die islamischen Länder eigenständige Wege der Modernisierung gehen können, oder ob "hier früher oder später der große Machtpoker erneut beginnt, nur eben mit anderen Spielern".

Bernard Lewis, Kultur und Modernisierung im Nahen Osten. Aus dem Englischen von Ulrich Enderwitz. Wien (Passagen Verlag) 2001 (96 S., 25,40 DM)