Brief aus den Niederlanden:

Falsches Verständnis

Frank Eckardt

Weiß man schon, wer die Anschläge durchgeführt hat?" Die Stille in der Amsterdamer Straßenbahn war bedrückend. Die Flugzeuge hatten die Twin Towers zum Einstürzen gebracht, jeder hatte es inzwischen im Fernsehen gesehen. "Ich bin heute Abend wieder zu Hause", flüsterte nun die muslimische Frau in ihr Handy. Sie sah sich um, blickte in die vielen bunten Gesichter von Menschen mit verschiedenen ethnischen Hintergründen, unterwegs in der voll bepackten Linie zehn.

Am selben Abend glich die multikulturelle Metropole, in der fast jeder Zweite nicht niederländischer Herkunft ist, einer Geisterstadt. Selbst der ansonsten von Lebendigkeit pulsierende Leidseplein war leer. Cafés wie "De Balie" stellten riesige Bildschirme auf, die Bilder von CNN wurden schweigend verfolgt. Die Niederlande nahmen Anteil an den Terroranschlägen: Überall hingen einfache Leute die holländische Fahne auf Halbmast, jede Stadt legte ein Kondolenzbuch aus, viele Veranstaltungen wurden abgesagt, die traditionelle Rede der Königin am "Prinsjesdag" wurde nicht im Parlament nachdiskutiert.

Umso schockierender waren Meldungen, dass die islamische Minderheit sich nicht an der Trauer beteiligt. Es fing damit an, dass am Abend der Anschläge marokkanische Jugendliche in der Kleinstadt Ede mit ihren Motorrollern durch die Nachbarschaft fuhren und ein kleines Freudenfest veranstalteten. Während eilig herbeizitierte Sozialarbeiter erklärten, diese Jugendlichen wüssten nicht, was sie vor lauter Langeweile tun sollten, eskalierte danach das Verhältnis der Niederländer zu ihren islamischen Mitmenschen desto mehr. Eine Umfrage des Umfrage-Instituts Foquz Etnomarketing im Auftrag der Zeitschrift Contrast, die sich mit Fragen der multikulturellen Gesellschaft auseinandersetzt, kam zu einem erschreckenden Ergebnis: Fast die Hälfte aller in den Niederlanden lebenden Muslime hat Verständnis für die Anschläge auf New York und Washington. Zugleich sind dennoch mehr als sechzig Prozent nicht damit einverstanden. Jeder vierte Befragte hatte eine indifferente Meinung zu den Terroranschlägen und fünf Prozent begrüßten diese ausdrücklich. 36,9 Prozent der Muslime konnte sich vorstellen, dass sich manche Glaubensbrüder sehr darüber freuen würden, obwohl jeder Zweite die Freudenfeuer in Ede für unangebracht hielt. Ministerpräsident Wim Kok reagierte sofort und mit harten Worten: "Wir können in unserer Gesellschaft nicht akzeptieren, dass die Anschläge auf die USA gutgeheißen werden. Wer das tut, der muss von uns deutlich zurechtgewiesen werden." Zugleich warnte Kok aber in einem Interview für das Fernsehprogramm Netwerk davor, die Menschen zu schnell abzuschreiben. Der Minister für Integrationspolitik, van Boxtel, kündigte an, mit den Führern der islamischen Gemeinden in den Niederlanden einen ernsthaften Dialog zu dieser problematischen Haltung zu führen. Er will darauf verweisen, dass die niederländische Gesellschaft von einem universalistischen Verständnis getragen werde, das von jedem die Achtung des Lebens anderer voraussetze. Auf die Kritik, hier zeige sich, dass die Integrationspolitik der Niederlande letztlich gescheitert sei, sagte der Minister: "Im Vergleich mit dem Ausland ist unser Umgang miteinander friedlich. Im Allgemeinen verläuft die Integration gut."

Daran muss ernsthaft gezweifelt werden: Seit den Anschlägen werden Moslems nicht mehr nur verbal diskriminiert, sondern müssen auch gewalttätige Anschläge hinnehmen. Die islamische Grundschule Abibakr in Nimwegen wurde von noch Unbekannten in Brand gesetzt. Das Feuer verwüstete zwei Schullokale und den Spielplatz – eine "makabre Landschaft"(de Volkskrant) von verkohltem Kinderspielzeug und Verwüstung. Ausgerechnet im abgebrannten Klassenraum waren drei Schweigeminuten abgehalten worden. Für den Schuldirektor Wim Mast steht fest: "Das hier ist kein Dummer Jungenscherz. Und es ist auch kein Zufall, dass es ausgerechnet jetzt passiert." Mit der Nachbarschaft hatte es in den zehn Jahren des Bestehens nie Schwierigkeiten gegeben. Auch jetzt – Wasser-, Strom- und Gasleitungen sind abgesperrt – sind die Nachbarn mit Tee, Kaffee und belegten Brötchen zur Stelle.

Der Zusammenhang mit den Anschlägen ergibt sich aus einer Reihe anderer Vorfälle, die seitdem aufgetreten sind. Inzwischen reißen die Meldungen nicht ab, in denen sich Muslime tagtäglich diskriminiert fühlen: Busfahrer weigern sich, an sie Fahrkarten zu verkaufen, Ärzte weisen sie aus der Praxis, Passanten rufen ihnen wilde Beschimpfungen nach und anonyme Bedrohungen werden angezeigt. Unbekannte versuchten die Gul-Zaza-re Medina-Moschee in Zwolle in Brand zu stecken. Auf den Wänden war "Fuck all Moslims" gesprüht worden. Die Internetseiten von islamischen Organisationen enthalten Sprüche wie: "Ihr werdet alle sterben." Abdul Majid, der für die Allgemeine Islamische Stiftung arbeitet, berichtet von vielen Telefonanrufen in Moscheen. Sie werden bedroht, wollen aber damit nicht in die Öffentlichkeit gehen. Die Nu-Islam-Moschee in Den Haag wurde voll gesprüht mit "White Power"-Graffitis. In Vlissingen wurden die Scheiben der al-Islam-Moschee eingeschmissen. Majid hat inzwischen für alle Städte ein Sicherheitskomitee eingerichtet. "Wir können natürlich keine Befestigungen errichten, aber zumindest kann jemand rund um die Uhr ein Auge auf die Moscheen richten." Insbesondere in Den Haag scheinen sich die Spannungen hoch aufzuladen. Die Stiftung Islamische Kuppel Den Haag (SHIP) wurde verwüstet, viele mit Kopftüchern bekleidete Frauen und Mädchen werden dort belästigt. Angst geht um. "Wir können die Muslime dazu aufrufen, ihren Kopf zu bewahren", erläutert Haci Karacaer vom türkisch-islamischen Verein Milli Görüs. "Doch wenn sie am nächsten Tag Graffitis lesen wie ‚Tod den Moslems’ wie an der Moschee in Barneveld, dann sind auch die Imane machtlos." Viele trauen sich deshalb nicht mehr vor die Tür. Überall seien ja Verrückte, auch hier. In der Contrast-Umfrage hatte die Hälfte der Befragten angegeben, sie befürchteten eine zunehmende Diskriminierung wegen der Terroranschläge.