Brief aus Österreich:

Appeasement-Politik? Oder: Die andere Sicht aus Brüssel

Gerhard Fritz

Lange Zeit hieß es in der veröffentlichten Meinung, bei den österreichischen Grünen wäre unter ihrem Bundessprecher Alexander van der Bellen (dem "Professor") ein geradezu langweiliger innerparteilicher Frieden ausgebrochen. Jetzt kann die "Regierungsfähigkeit" wieder bezweifelt werden, wie manche Zeitungen Mitte Oktober erleichtert konstatierten. Man kann wieder von innerparteilichem Zank berichten. Der Streit geht um ein Verfassungsgesetz, das zwar auch im EU-Kontext eine wesentliche Rolle für Österreich festschreibt, das aber auch zu einer österreichischen Lebenslüge geworden ist, weil es nicht wirklich auf die neuen Verhältnisse nach 1989 und dem EU-Beitritt 1995 überdacht worden ist: um die Neutralität.

Die österreichischen Grünen hatten nach dem 11. September sehr schnell den Standpunkt "Gerechtigkeit statt Vergeltung" bezogen – was hätten sie angesichts der pazifistischen Grundstimmung ihres Milieus und angesichts des hohen Stellenwerts, den die "Neutralität" in der österreichischen Seele einnimmt, auch anderes tun sollen? Zumal die Regierung die Terror-Anschläge zum Vorwand nimmt, um mit emotionalem Schwung das Neutralitätsgesetz zu demontieren und Österreich in die NATO zu führen.

Auch im EP haben die Grünen mit einer gemeinsamen Erklärung der beiden KopräsidentInnen der Fraktion am 9. Oktober betont, dass "sich die militärische Intervention strikt auf die Zerschlagung des terroristischen Netzwerks beschränken muss", und vor einer Eskalationsspirale gewarnt.

Völkerrechtlich ist die Rhetorik von "This is War" eine Methapher – jedenfalls solange eine noch so monströse terroristische Attacke nicht in die von der Völkergemeinschaft entwickelten und akzeptierten Kategorien passt und "nur" ein Verbrechen ist, ein Fall für "Strafrecht und Polizei". Natürlich müssen die Rechtsgrundlagen und Voraussetzungen für "Polizeiaktionen" im UN-Rahmen weiterentwickelt werden. Bis dahin kann sich kein Staat der Welt, schon gar nicht die USA, ein solches Verbrechen bieten lassen. Die Reaktion muss allerdings "unmittelbar" und "angemessen" sein. Wir haben ja eine Rechtsordnung zu verteidigen, und das so rechtmäßig wie nur möglich.

Ground Zero war und ist ein Treffer "ins Herz des Systems", zu dem wir selber gehören. Darüber sind sich wohl die österreichischen Grünen einig. Aber da erklärt die Abgeordnete Lichtenberger (Mitglied im Verteidigungsausschuss): "Österreich als neutrales Land solle alles dafür tun, dass der Sicherheitsrat seine bisher starke Rolle behält ... Es ist wichtig, dass Österreich zur aktiven Neutralität zurückkehrt, um zur Verhinderung von Konfliktsituationen sowie zur Friedenserhaltung beitragen zu können." Konsequenterweise stimmte die grüne Fraktion geschlossen gegen die pauschale Gewährung von Überflug-Genehmigungen für die amerikanische Luftwaffe, weil ihrer Meinung nach die bisherigen UNO-Resolutionen keine ausreichende Rechtsgrundlage für ein Abgehen von der verfassungsrechtlichen Neutralität bilden könnten. Für die Rechtskoalition war das gewissermaßen "Hochverrat an der freien Welt" sowie "objektive Schützenhilfe für den Terrorismus", für die Sozialdemokraten, die mit der Regierung stimmten, war es peinlich.

MdEP Voggenhuber nahm’s zum Anlass für eine mit biblischem Zorn vorgetragene Attacke auf seine Partei. Er erklärte die Debatte über Rechtsgrundlagen zur "fragwürdigen Haarspalterei." "Verlogene Appeasement-Politik gibt’s ohne mich", verlautbarte er, bevor er sich ins Flugzeug setzte, um dem Parteivorstand die Leviten zu lesen. Man müsse erkennen, dass der Terrorismus "das Ziel der Destabilisierung ganzer Gesellschaften und der Auflösung von Demokratien" verfolge. Weswegen Voggenhuber auch den NATO-Beschluss der Auslösung des "Bündnisfalles" ausdrücklich für richtig hält und dafür eintritt, dass die EU alle militärischen Maßnahmen der USA unterstützt.

Bundessprecher Alexander van der Bellen erklärte immer wieder, dass zwischen politischer Solidarität mit den USA und militärischer Neutralität unterschieden werden müsse, räumte ausdrücklich ein, dass die abweichende Meinung von Johannes Voggenhuber vom Bundesvorstand respektiert würde, bat aber nachdrücklich um Deeskalation in der Debatte – und hatte damit die große Mehrheit der Partei hinter sich. Schließlich: Genauso wie der Nährboden des Terrorismus langfristig durch Lösung der sozialen und ökonomischen Probleme ausgetrocknet werden müsse und die Demokratie nicht unter dem Titel ihrer Verteidigung durch Einschränkung der bürgerlichen Grundfreiheiten zu Tode verteidigt werden dürfe, genauso müsse auch bei internationalen Polizeiaktionen an der Rechtsstaatlichkeit festgehalten werden.

Voggenhuber erklärte seine Partei im Drei-Tage-Rhythmus für von antiamerikanischen Ressentiments befallen, auf dem Wege, ihre Regierungsfähigkeit zu verspielen, und letztlich für einen verantwortungslosen Haufen, der sich opportunistisch der mehrheitlichen "Ohne-Mich-Stimmung" anpasse, die (und da hat er recht) in Österreich immer schon das Substrat des Klammerns an die 1955 erklärte "immer währende Neutralität" gewesen wäre. Das Ganze gipfelte in einem spektakulären Duell zwischen den bisher fast immer einig im Doppelpack aufgetretenen Parlamentariern MdEP Voggenhuber und dem nationalen Sicherheitssprecher Abg. Peter Pilz am 15.10., mit ausführlichem O-Ton im ORF. Und mittlerweile hatte sich der Bundessprecher auch schon zu der für seine "britische" Noblesse geradezu ungeheuerlichen Drohung durchgerungen, Voggenhuber könnte mit seiner Haltung seine Wiederkandidatur bei den nächsten Europawahlen gefährden.

Das profil war inzwischen an vielen Beispielen der Frage nachgegangen, ob nicht – in allen Parteien! – die Sichtweise aus Brüssel notgedrungen zu anderen Ergebnissen führe als die jeweils an innenpolitischer Kontingenz und Opportunität ausgerichtete Parteilinie. Für diese Vermutung spricht einiges. Die Vorkämpfer der Konstruktion "europäischer Öffentlichkeit" (zu denen die MdEPs notgedrungen gehören, und Johannes Voggenhuber als Vizepräsident des Verfassungsausschusses und Berichterstatter über die Grundrechts-Charta ganz besonders) müssen natürlich tatsächlich gegen kleinliche nationalstaatliche Sichtweisen in ihren eigenen Parteien aufbegehren.

Johannes Voggenhuber müsste sich allerdings – bei allem Respekt – fragen lassen, ob sein Tonfall der Sache dienlich ist. Auch wenn wir über Leben und Tod, Krieg und Frieden diskutieren und nicht über den neuesten langweiligen Verordnungsvorschlag der Kommission. Und eines ist sicher: Am 15. Oktober veröffentlichte die Kronenzeitung hämisch ihre neueste Umfrage, nach der die Grünen nach einem monatelangen Umfragehoch auf 7 Prozent abgestürzt seien.