Südwest-Boulevard

Aus der Trennungsgeschichte von Zivilisation und Kultur

Gerd Held

 

47/01

In Romanen und Filmen, die im südlichen Frankreich des 19. Jahrhunderts spielen, findet man immer wieder zwei Gegenspieler. Zwischen ihnen spannt sich das Leben der Dörfer und Provinzstädtchen. Sie spielen auf verschiedenen Ebenen, keiner kann den anderen wirklich überwältigen. Der eine ist tief im Ort, seinen Familien, seinen Bräuchen und Mythen verwurzelt, der andere ist oft zugereist, in Paris ausgebildet – ein Vertreter des Wissens, aber auch der Eisenbahn, neuer Weinbaumethoden und Arzneimittel, der Naturbeobachtung und der Kriminalistik. Der erste ist der katholische Pfarrer, der andere der Lehrer der laizistischen Schule.

48/01

Zwei Bauwerke stehen in der südfranzösischen Stadt Béziers. Sie liegen nur ein paar hundert Meter auseinander und doch auf zwei völlig verschiedenen Konstruktionsebenen. Da ist zum einen die Kathedrale St. Nazaire, die die Stadt weithin sichtbar überragt. Im Jahr 1209 war diese Kirche Endpunkt eines grässlichen Massakers. Ein Kreuzfahrerheer des französischen Königtums hatte im Krieg gegen die südfranzösische häretische Glaubensbewegung der Katharer Béziers eingenommen und ein Blutbad angerichtet – bis ins Innere der Kirche, wohin sich die Bewohner geflüchtet hatten. Diese Kirche ist ein Denkmal für die wenig bekannte Tatsache, dass Kreuzzüge auch gegen innereuropäische Feinde gerichtet waren. Zugleich war der Sieg über die Katharer ein Meilenstein in der Einigung Frankreichs durch das nördliche Zentrum um die Ile-de-France mit Paris. Es dauerte noch bis ins 19. Jahrhundert, bis der "große Süden" ("Grand Midi") real dem Territorialstaat subsumiert wurde. Im gleichen Jahrhundert kehrte dann die Glaubensvielfalt als "Kultur" wieder, nachdem der häretische Glauben in Südfrankreich in seiner staatsbildenden Kraft zerstört war. Der katholische Glauben war freilich in der ganzen Zeit noch staatsbildend gewesen, aber auch er verlor diese Fähigkeit – und zwar auf dem Posten des Siegers.

Ein zweites Bauwerk, das unterhalb der Kathedrale an Béziers vorbeiführt, bildet hier einen Meilenstein. Es ist der Canal du Midi, der, von Sète ausgehend, das Mittelmeer mit dem Atlantik verbindet. Er wurde zwischen 1666 und 1680 erbaut, mit 10.000 Arbeitern, mit den Planungsmethoden des absolutistischen Staates unter Colbert und mit der unternehmerischen Initiative eines einheimischen Steuerpächters, Pierre-Paul Riquet. Ein kolossales Werk der frühen Moderne, dessen baumbestandene Seitenwälle noch heute als beeindruckendes Band die Landschaft durchziehen. Der Kanal vertritt keine Religion, er hat noch nicht mal eine spezifische Identität des Nordens oder Südens. Er kann viele Identitäten tragen, und diese Tragfähigkeit ist auch baulich aufwendig gestaltet, wie die Gestaltung vieler Schleusen zeigt. Er ist eine gebaute "res publica".

49/01

Das Verhältnis von Zivilisation und Kultur kann man sich nach dem Vorbild des Geldes vorstellen. Das abstrakte Geld kann bei aller Einheitlichkeit die unterschiedlichsten Gebrauchswerte verkörpern. Es geht dabei selbst aus konkreten Geldwaren (Muscheln, Silber, Gold ...) und einem Verdrängungskampf zwischen ihnen hervor.

50/01

Es gibt im französischen Midi eine Asymmetrie der Konflikte. Der Religionskampf wird durch eine Auseinandersetzung zwischen zivilisatorischer und kultureller Mission überlagert. Die republikanischen Lehrer des 19. Jahrhunderts sind nicht die Erben der katholischen Kreuzritter von 1209. Sie sind aber auch nicht die Erben des Protestantismus gegen die katholische Dogmatik. Die Lehrer sind ein drittes Element. Ihre Aufklärung bestätigt den unter katholischer Hegemonie gewachsenen Zentralismus und schleift ihn zugleich ab und bietet den Hugenotten einen Schutzschirm gegen Verfolgung. Der Canal du Midi gehört im Kern zu den Konstruktionen des Absolutismus. Aber er mobilisiert Ressourcen des Südens, die bisher brachlagen. Er macht den Süden südlicher, indem er ihn auf eine gemeinsame Weg-Plattform mit dem Atlantik und dem Norden stellt. Das hätte kein Kulturkampf und kein kultureller Pluralismus geschafft. Aber ohne die katholische Hegemonie hätte sich nicht jener Zentralismus herausbilden können, der den französischen Weg zur Zivilisation bildete. So wurde der Sieg der Kreuzritter indirekt – und weiß Gott unabsichtlich – auf lange Sicht zu einem Baustein der Toleranz in Gestalt einer übergreifenden materiellen Zivilisation. Man könnte sich vorstellen, dass es umgekehrt gelaufen wäre und der Midi gegenüber dem Norden die Zivilisationsbildung geführt hätte – die katalanische Option in Spanien gehörte auch dazu. Aber dieser Dampfer ist längst abgefahren. Heute scheitern regionalistische Bestrebungen an der Frage, ob sie ein Zivilisationsangebot hervorbringen können und nicht an der Frage, ob sie eine kulturelle Identität repräsentieren.

51/01

Die Geschichte der modernen Territorialstaaten ist ohne den Trennungsprozess von Zivilisation und Kultur nicht denkbar. Dieser Prozess verläuft nicht symmetrisch. Eine übergreifende Zivilisation geht nicht aus einer interkulturellen Verständigung über Gemeinsamkeiten hervor. Am Anfang stehen in der Regel kulturelle Sieger und Besiegte. Im Folgenden werden auch die Sieger besiegt, durch Verallgemeinerung, Mäßigung, Abschleifung. Kastilien in Spanien oder Preußen in Deutschland sind eben nicht einfach "Leitkulturen".

52/01

Der Satz "Armut ist die Ursache von Terrorismus" ignoriert, dass es den meisten Entwicklungsländern nicht an Gebrauchsgütern fehlt, sondern an dauerhaften Zivilisationsgütern. Auch derjenige, der nur die Forderung nach "kultureller Akzeptanz" erhebt, macht noch kein tragfähiges Angebot. Der kulturalistische Blick, der ein beliebtes Refugium neuerer Kapitalismuskritiker ist, kann die Welt nur als Identitätenauswahl sehen. Diese Marktkritik à la carte vertritt nur den Standpunkt eines eitleren Marktes.

53/01

In Lion Feuchtwangers Die Jüdin von Toledo kann man einen Eindruck von der zivilisatorischen Rolle bekommen, die der Islam einmal in jener Epoche angefangen hatte, als in Spanien Juden und Christen unter islamischen Regimes mehr Platz fanden als Moslems und Juden unter christlichen Regimes. Wie weit ist die heutige islamische Welt von dieser Rolle entfernt! Sie hat kein Angebot.