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Die neue Weltlage – zurück zu Keynes?

Otto Singer

Seit dem 11. September hat sich die Welt verändert. Die unmissverständliche Bekämpfung und Abwehr des internationalen Terrorismus ist ebenso geboten wie die Schaffung einer internationalen Koalition, die auf längere Sicht die Staatenwelt vor offenen Konflikten zwischen den Kulturen bewahren kann. Selbst die Grünen haben – partiell und ohne innere Überzeugung die Notwendigkeit einer Abwehr der Gefahren des internationalen Terrorismus eingesehen. Was nun aber überrascht, ist die Leichtigkeit, mit der die politischen Akteure (nicht nur) in Berlin alle möglichen politischen Maßnahmen mit dem Verweis auf die neue Weltlage rechtfertigen. Besonders deutlich wurde die neue Argumentationslinie beim Bundesaußenminister, der die Frage stellte, ob "das neue Engagement für eine auf Pluralität gründende Weltordnung, das ein Mehr an Sicherheit im Innern und Äußern erfordert und mehr Einsatz in der Außenpolitik, in der Friedenspolitik und in der Entwicklungspolitik notwendig macht, mit den Vorstellungen von einem Niedrigsteuerstaat, denen wir alle angehangen haben, tatsächlich noch vereinbar ist" (Fischer am 11.10.01 im Deutschen Bundestag). Eine neue Stufe des staatlichen Interventionismus kündigt sich an. Eine besondere Ironie der Geschichte ist es, dass der neue starke Staat – der "kooperative Transnationalstaat" (Ulrich Beck) als globales Ereignis wird wohl ein Wunschtraum bleiben – nun gerade von jenen eingefordert wird, die den Niedergang des säkularen Nationalstaates beschworen haben.

Brauchen wir nun eine wehrhafte Ökonomie mit einem neuen – auch international ausgerichteten – Interventionsstaat? Gewiss, die Welt ist unsicherer geworden. Aber nicht alle Gefahren und Risiken sind Ausdruck und Folge der Mordtaten und Drohungen der Terroristen. Der Internationale Währungsfonds hatte bereits vor den Terroranschlägen die globale Wachstumsprojektion für 2001 gegenüber den früheren Prognosen deutlich nach unten gesenkt. Auch für Deutschland und den Euro-Raum wurden die Wachstumserwartungen noch einmal reduziert: Das deutsche Wirtschaftswachstum wird nach dieser Prognose in diesem Jahr nicht einmal 1 Prozent erreichen, im Euro-Raum werden 1,8 Prozent Zuwachs erwartet.(1) Eine zentrale Frage ist nun, wie diese Projektionen im Licht der Ereignisse des 11. September interpretiert werden müssen. Vermutlich wird die terroristische Attacke einen negativen Effekt auf die ökonomische Aktivität in vielen Ländern der Welt haben. Dies ist angesichts des synchronen konjunkturellen Abwärtstrends, der sich insbesondere in Europa zeigt, ein zusätzlicher Schwächefaktor für die Finanz- und Gütermärkte. Wie sich das Verhalten von Konsumenten und Unternehmen entwickelt, wird nicht zuletzt von den außerökonomischen Ereignissen der kommenden Wochen und Monate abhängen.

Ein ganz anderes Thema ist die Frage, ob der Terrorangriff Auswirkungen auf die zukünftigen Prozesse der Internationalisierung und Globalisierung haben wird. Dies betrifft beispielsweise multinationale Unternehmen, die unter Umständen ihre Standortentscheidungen künftig stärker von Sicherheitserwägungen abhängig machen werden. Offen ist, ob dies zu einem Rückgang der bereits erreichten Offenheitsgrade der Ökonomien und Gesellschaften führen wird. Bisher war in der westlichen Welt der Prozess der Globalisierung vor allem mit der Idee der Freiheit, der Grenzenlosigkeit, der Offenheit und Kooperation assoziiert. Nun wird die Vorstellung Platz greifen, dass eine offene globale Wirtschaft von mehr Voraussetzungen abhängig ist als von einer Idee der freien Transaktion von Gütern. Es hat sich gezeigt, dass die Freiheit einen hohen Preis haben kann und dass auch die freiheitlichen Voraussetzungen für die ökonomische und informationelle Vernetzung der Welt in weit größerem Maße schutzbedürftig sind, als dies bisher angenommen worden ist. Dies bedeutet: Die global ausgerichtete Wirtschaft muss künftig stärker mit globalen Regeln zu ihrer Sicherheit flankiert werden. Damit werden zusätzliche Anstrengungen erforderlich werden.

Bedeutet dies nun auch, dass die Formen und der Umfang des nationalen staatlichen Handelns neu geordnet werden müssten, gar ein neuer, international ausgerichteter Keynesianismus auf der Tagesordnung steht? Die Forderungen von Politikern und Vertretern von Big Labour und Big Business nach einer Erweiterung der Staatsaktivitäten – die sich damit den Positionen der Anti-Globalists annähern – beruhen indessen auf größtenteils falschen Annahmen. Die Vorstellungen vom Niedrigsteuerstaat und dem neoliberalen Marktmodell sind eine idée fixe der Marktkritiker und Aktivisten "gegen die neoliberale Globalisierung" (Attac), die seit Jahren behaupten, dass die ökonomischen Internationalisierungsprozesse zu einer Aushöhlung der staatlichen Leistungsfähigkeit geführt habe.

Tatsächlich hat sich die Steuer- und Abgabenquote – also der Anteil der Steuern und Abgaben am Sozialprodukt – im heutigen Euro-Raum seit den Siebzigerjahren immer weiter erhöht. Lag der Anteil der Staatseinnahmen im Jahr 1979 noch bei 35 Prozent, so stieg dieser bis zum Ende der Neunzigerjahre auf den Wert von deutlich über 40 Prozent. (Nur in Schweden ist der Anteil der staatlichen Einnahmen von 60 auf 57 % des BIP gesunken – auch dies nicht gerade ein Beispiel für den Verfall der staatlichen Steuerbasis.) Begleitet war diese Entwicklung von einer sich ausweitenden Haushaltslücke, da die Staaten die noch viel schneller steigende Ausgabenbelastung immer mehr durch Kredite finanzierten. In Euro-Land ist diese Schuldenentwicklung infolge einer gemeinsamen Anstrengung aller beteiligten Länder nun fast zum Stillstand gekommen, die öffentlichen Haushalte bewegen sich in die Richtung einer soliden Finanzpolitik und legten das Fundament für eine langfristige ökonomische Entwicklung.(2)

Soll dieses europäische Modell einer marktwirtschaftlich ausgerichteten staatlichen Wirtschaftspolitik nun zugunsten eines Modells eines neuen Regulierungs- und Interventionsstaates mit weiter ansteigender Staatsquote aufgegeben werden? Keynesianische Politik wäre mit den alten Steuerungsproblemen konfrontiert: Erstens das Problem von Wissen und Information über das richtige Modell der Ökonomie; zweitens die politische Fragmentierung des Entscheidungsprozesses, die mit Inkonsistenzen und Koordinierungsproblemen verbunden ist; drittens die partikuläre Interessenverfolgung, die sich in diesen Entscheidungen niederschlägt. Die Gründe für die Obsoleszenz keynesianischer Makropolitik sind deshalb sowohl theoretischer als auch praktischer Natur: Theoretisch ist der Keynesianismus nicht gescheitert, sondern befindet sich heute in Konkurrenz mit anderen Entwürfen in der Makroökonomie; die Durchsetzbarkeit keynesianischer Ansätze scheitert jedoch in vielfacher Hinsicht an der Komplexität des politischen Prozesses. Dies sollte auch heute nicht übersehen werden. Und im Übrigen: Die Reformprogramme auf europäischer Ebene – dokumentiert in den jährlichen "Grundzügen der Wirtschaftspolitik" der EU – bilden bereits eine multidimensionale Agenda der wirtschaftspolitischen Steuerung, die mikro- und makroökonomische Maßnahmen beinhaltet. Eine spezifisch keynesianische Steuerungsform mit zusätzlichen umfangreichen Ausgabenprogrammen wäre wohl das Ende einer vernünftigen europäischen wirtschaftspolitischen Koordination. Dies bedeutet keineswegs, dass die neuen internationalen Herausforderungen nicht berücksichtigt werden müssten. Dazu sind freilich nicht in erster Linie neue finanzielle Mittel vonnöten, erforderlich ist vielmehr eine (sicherheitspolitisch stärker gewichtete) Justierung des staatlichen Aufgabenumfangs und der Struktur der öffentlichen Güter. Wir sollten dabei nicht vergessen: Der in den letzten Dekaden rasant angestiegene Umfang des öffentlichen Sektors und die anhaltend hohe öffentliche Verschuldung sind ein wesentlicher Grund für die schlechten Wachstums- und Beschäftigungsergebnisse in den europäischen Volkswirtschaften.

Brauchen wir auch mehr internationale öffentliche Güter, die eine grundsätzliche Änderung des fiskalischen Verhaltens der Nationalstaaten erzwingen könnten? Sollte die künftige Weltordnung durch anhaltende militärische Formen der Befriedung gekennzeichnet sein, wäre dies in der Tat ein Grund für dauerhaft stärkere Belastungen der öffentlichen Haushalte. Noch dürfen wir aber davon ausgehen, dass dieser Zustand einer hobbesianischen Form der Konfliktbewältigung in einer "Welt ohne Mitte" (Michael Stürmer) nicht von Dauer ist und nicht globalen Charakter annehmen wird. Das Ziel bleibt eine Weltordnung, die allen Völkern die Perspektive der ökonomischen und sozialen Teilhabe ermöglicht. Allerdings: Das ökonomische Versagen in vielen Teilen der Welt – nicht zuletzt in den islamischen Ländern – ist Ausdruck einer vielfältigen Ursachenstruktur. Dazu gehören nicht zuletzt auch ideologische Faktoren, die sich einer Modernisierung der Gesellschaften entgegenstellen. "Institutions of Modernity" (Francis Fukuyama) können nicht ohne weiteres von außen gesetzt oder gar erzwungen werden. Die Entwicklungsfähigkeit bedarf vor allem der internen Herausbildung von dauerhaften und effizienten Staatsstrukturen, die jedoch nicht einfach von den erfolgreichen Gesellschaften übertragen werden können.(3) Die Geschichte der europäischen Staatenbildung zeigt, dass dies ein Prozess von Jahrhunderten ist. Ein beträchtlicher Teil der Welt befindet sich noch ziemlich am Anfang dieses Prozesses. Noch ist offen, inwieweit der von manchen geforderte "new imperialism" (Financial Times) der mächtigen und reichen Staaten diese Prozesse beschleunigen oder abkürzen kann. Voluntaristisches Vorgehen – Hybris wäre vielleicht eine angemessene Kennzeichnung – würde mehr Schaden als Nutzen stiften. Auch auf internationaler Ebene existiert das Problem der Überforderung der Politik.

1 Vgl. dazu den Überblick im World Economic Outlook des Internationalen Währungsfonds (www.imf.org/external/pubs/ft/weo/2001/02/index.htm) und die Herbstdiagnose der deutschen Forschungsinstitute: Die Lage der Weltwirtschaft und der deutschen Wirtschaft im Herbst 2001 (www.diw-berlin.de/deutsch/publikationen/wochenberichte/jahrgang01/).

2 Die frühen Siebzigerjahre markieren einen Bruch im Fiskalverhalten der OECD-Länder, nachdem die meisten Länder die Finanzlast des Zweiten Weltkrieges in der Wachstumsphase der Nachkriegszeit abgetragen hatten. Zwei wesentliche Ursachen sind für diese Entwicklung verantwortlich: Eine davon ist der säkulare Wachstumsrückgang seit den späten Sechzigerjahren, die zweite Erklärung nennt den steigenden Einfluss des keynesianischen Denkens in der Wirtschaftspolitik, das steigende Ausgabenquoten und Defizite politisch akzeptabel machte, vgl. dazu Singer, Otto (2001): Finanzpolitik in EURO-Land. Sachstand und Steuerungsprobleme, Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung.

3 Eine sehr instruktive Übersicht hierzu liefert der neue World Development Report der Weltbank, der die institutionellen Grundlagen für die Entwicklung von Gesellschaften untersucht (www.worldbank.org/wdr/2001/fulltext/fulltext2002.htm).