Brief aus Washington (17)

Konturen einer neuen Politik?

Sascha Müller-Kraenner

Washington hat sich an der Oberfläche kaum geändert. Der 11. September war ein wunderschöner Sommertag. Mittags am Dupont Circle, einem Szeneviertel mit vielen Kneipen, versammelten sich ungewöhnlich viele Angestellte der umliegenden Anwaltskanzleien, Think Tanks und Universitäten in den zahlreichen Straßencafés. Viele Büros hatten ab mittags geschlossen. Weiterarbeiten wollte ohnehin keiner. Die Stimmung war auf surreale Weise entspannt. Nur am Horizont waren zwei F-16-Kampfjets zu sehen und eine Rauchfahne. Aus CNN wusste man, dass das Pentagon dort im Südwesten brannte.

Viele mussten erst eine Nacht darüber schlafen, bis ihnen klar wurde: Amerika und die Welt haben sich am 11. September geändert. Die im Fernsehen abgebildete Generalmobilmachung, die Nachrichten von der Einberufung der Reservisten und der Nationalgarde, die Kriegsschiffe, die vor der Ostküste patrouillieren, stehen im seltsamen Kontrast zur Alltagswirklichkeit. Im Gegensatz zur U-Bahn in einigen deutschen Städten fährt die Washingtoner Metro ohne Trauerflor. Die Kinder hatten einen Tag schulfrei und bekamen von der Lehrerin erklärt, dass "böse Menschen" ein Flugzeug haben abstürzen lassen. In einem Brief an die Eltern bittet der Direktor der Schule, erst dann die Fernsehnachrichten einzuschalten, wenn die Kinder im Bett sind. Kinos und Fernsehen haben besonders gewalttätige Streifen erst einmal abgesetzt. Statt dem neuen Schwarzenegger (im Kampf gegen Terroristen) wird das Trickfilmmärchen mit dem trolligen Troll namens Shrek ein paar Wochen länger gezeigt.

Die Krise hat das Beste und das Schlechteste an Amerika und den Amerikanern in den Vordergrund gerückt. Fast jedes Geschäft nimmt Spenden für das Rote Kreuz und andere Hilfsorganisationen an. Radiosender starten Sonderaktionen. Vor den Krankenhäusern stehen Schlangen von Menschen, die Blut spenden wollen. Die freiwillige Feuerwehr sammelt Ausrüstungsgegenstände für die Hilfstrupppen in New York und am Pentagon. Zu den 20 Milliarden Dollar, die der US-Kongress für den Wiederaufbau der City von New York bewilligt hat (weitere 8 Milliarden stellt der Staat New York zur Verfügung), kommen Gelder einer Vielzahl privater Stiftungen und von Wirtschaftsunternehmen. Alle sind beeindruckt vom Einsatz der Stadt New York, ihrer Bürger und ihrer Symbolfigur, des Bürgermeisters Rudi Giuliani, das Alltagsleben wieder in den Griff zu bekommen und die Stadt wieder aufzubauen. So bat Giuliani die Theater am Broadway, ihre Vorstellungen noch am Tag nach dem Anschlag wieder aufzunehmen. Die Botschaft: New York lässt sich auch diesmal nicht unterkriegen. Zahlreiche philantropische Einrichtungen und vor allem christliche und jüdische Organisationen und Kirchengemeinden haben versprochen, den Dialog mit den 10 Millionen arabischstämmigen Amerikanern und Muslimen zu fördern. Auffällig ist die Vielzahl der interkonfessionellen christlich-jüdisch-islamischen Trauerfeierlichkeiten und Kundgebungen. Demonstrativ besuchte George W. Bush als erster US-Präsident eine Moschee.

Wie immer lässt sich Volkes Stimmung an den neuesten Autoaufklebern ablesen. Neulich fuhr ich an einer Schlange von Autos vorbei und sah dreimal die Aufschrift "Bye Bye Afghanistan". Auch wenn Patriotismus in den USA nicht per se den nationalistischen Touch hat wie in Deutschland, sind aggressive Töne unüberhörbar.

Ein besonders klammes Gefühl hat in Europa die amerikanische Feststellung, es handele sich um einen "Krieg", nicht um ein Verbrechen, ausgelöst. Allerdings ist der Ausdruck "War" in den USA in den vergangenen Jahren schon fast inflationär verwendet worden: War on Drugs, War on Crime, War on Poverty … Die Ausrufung des Kriegszustandes besitzt also nicht die gleiche Dramatik wie im durch die beiden Weltkriege immer noch traumatisierten Europa. "War" bedeute zwar auch, aber nicht ausschließlich, den Einsatz militärischer Mittel. Gemeint ist eher eine Kampagne, ein Maßnahmenpaket. Die faktische Feststellung des Kriegszustandes durch die amerikanische Regierung besitzt aber auch praktische Auswirkungen. Durch sie kann auf das einengende rechtliche Regelwerk der Verbrechensverfolgung verzichtet werden. Immer wieder wird zitiert, dass die amerikanischen Geheimdienste im Verfahren gegen den ersten Anschlag auf das World Trade Center 1993 zahlreiche geheime Informationen über die Organisation Bin Ladens vor Gericht offen legen mussten.

Wie werden die USA reagieren? Sowohl durch eine Verstärkung der Sicherheitsmaßnahmen im eigenen Land als auch durch militärische Gegenmaßnahmen, vor allem aber – und langfristig mit dem weitreichendsten Konsequenzen – durch die Neudefinition des Verhältnisses der USA zum Rest der Welt.

Die Verstärkung von Sicherheitsmaßnahmen im Flugverkehr, bei öffentlichen Einrichtungen und an den Außengrenzen der USA steht in einem schwierigen Spannungsverhältnis mit den individuellen Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger, aber auch mit der liberalen Wirtschaftsdemokratie des Landes. Kosten- und zeitaufwendige Sicherheitsvorschriften im Flugverkehr gehen auf Kosten von Preis, Schnelligkeit und Flexibilität beim Transport von Personen und Gütern. Besonders Boomsektoren wie die Touristikindustrie könnten längerfristig unter höheren Kosten, Komfortverlust und dem Verlust an der Unbefangenheit ihres Publikums zu leiden haben. Restriktionen bei der legalen und illegalen Zuwanderung rauben dem US-Arbeitsmarkt seine bisherige Flexibilität.

Eines der ersten Opfer der neuen Sicherheitsmaßnahmen war die diesjährige Jahrestagung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank, die ersatzlos abgesagt wurde. Wegen Sicherheitsbedenken der Washingtoner Polizei wird das Treffen, das jährlich die Finanz- und Entwicklungsminister aus aller Welt samt umfangreicher Delegationen sowie eine Vielzahl von Lobbyisten und Demonstranten anzieht, voraussichtlich durch Beratungen per Videokonferenz ersetzt werden. Auf ihrer Frühjahrstagung 2002 dürften IWF und Weltbank dann über neue Kredite für Pakistan und andere Allianzpartner der USA im Feldzug gegen den Terrorismus beraten. Außerdem wird darüber spekuliert, dass Stützungsmaßnahmen für die Türkei, die mittelasiatischen Staaten und andere Länder im Nahen und Mittleren Osten notwendig werden könnten, falls die gespannte politische Lage der Wirtschaft dieser Länder weiter zusetzt. Damit gerät allerdings das in der IWF-/Weltbank-Reformdiskussion angestrebte Ziel in Gefahr, beide Institutionen zukünftig unabhängiger von politischen Einflüssen zu machen und auf ihre finanzpolitischen Kernaufgaben, die Stabilisierung des Weltwährungssystems und die Gewährung von Krediten für die ärmsten Entwicklungsländer, zu konzentrieren.

Ebenfalls abgesagt wurde die für die dritte Septemberwoche terminierte UN-Generalversammlung. Für den UN-Standort New York werden in Zukunft ganz andere Sicherheitsvorkehrungen getroffen werden müssen. Unabsehbar ist noch, was dies für den Zugang von Nichtregierungsorganisationen und anderen Beobachtern zu den Beratungen der UN bedeutet.

Die amerikanische Regierung hat eine langfristig angelegte militärische Kampagne gegen Terrornetzwerke und die sie unterstützenden Regierungen angekündigt. Zumindest zum Zeitpunkt des Verfassens dieses Artikels war der Meinungsbildungsprozess, wie sich eine solche Kampagne aufbauen sollte, noch nicht abgeschlossen. Außer Zweifel steht, dass die USA gegen Stützpunkte und Ausbildungslager von Terrororganisationen militärisch vorgehen werden. Umstritten ist, ob die Urheber der Anschläge überhaupt rechtlich belangt oder einfach umgebracht werden sollen. Bisher steht letzterer Option das 1974 von Präsident Gerald Ford verhängte Verbot entgegen, dass sich staatliche Einrichtungen an Mordaktionen beteiligen und Berufskiller anheuern. Präsident Bush hat angekündigt, dass die USA keinen Unterschied zwischen den an den Anschlägen beteiligten Terroristen sowie denjenigen Regierungen, die diesen Unterschlupf gewähren, zu machen gedenken. Praktisch gesehen ist diese Ankündigung allerdings nicht durchführbar. So fordert selbst der ehemalige Sprecher des US-Repräsentantenhauses, Newt Gingrich, Afghanistan und einer Reihe anderer Staaten erst einmal Ultimaten zu stellen, Terrorbasen zu schließen und die Terroristen auszuliefern.

Auch darüber, wie eine militärische Vorgehensweise gegen einzelne Regierungen aussehen könnte, herrscht eine Mischung aus Uneinigkeit und Ratlosigkeit. Auch wenn laut CNN-Umfrage 80 Prozent der Amerikaner dafür sind, Kabul zu bombardieren, ist selbst den Falken in Administration und Kongress klar, dass ein so armes Land wie Afghanistan kaum strategische Ziele bietet, die nach Art des Kosovokrieges von der Luft aus angegriffen werden können. Eine Invasion von Afghanistan auf dem Landweg, mit dem Ziel, die Regierung der Taliban abzulösen, ist logistisch so schwierig zu bewältigen und militärisch so riskant, dass sie momentan noch nicht mehrheitsfähig ist. Außenminister Powell ist offenbar dagegen, die USA in ein "zweites Vietnam" zu verwickeln.

Neben Afghanistan gelten unter anderem Irak und Sudan als Kandidaten für Vergeltungsaktionen der USA. Nach Aussage des CIA haben sowohl der irakische als auch der sudanesische Geheimdienst die Gruppe bin Ladens seit langem unterstützt. Sowohl Irak als auch Sudan ließen sich durch eine Invasion von Bodentruppen, nach dem Modell des Golfkrieges – in Saudi-Arabien respektive Ägypten stationiert –, bekämpfen. Allerdings liegen bisher gegen keinen der beiden "Schurkenstaaten" ausreichende Beweise vor. Ob die schlichte Weigerung des Irak, vom CIA dort vermutete Terroristen auszuliefern, als Begründung für einen Landkrieg ausreichen wird?

Selbst wenn die USA sich mit einer mit ihren Alliierten in Europa und dem Nahen Osten nicht abgestimmten Militärkampagne unbeliebt machen, geht der Trend nicht in Richtung Unilateralismus. George Bush, der als Innenpolitiker angetreten ist, wird die Außenpolitik zukünftig in das Zentrum seiner Präsidentschaft stellen müssen. Die  US-amerikanischen Eliten sind sich bewusst, dass sich die internationalen Terrornetze und die Vielzahl der regionalen Konflikte, die als Rekrutierungsfelder dieser Organisationen dienen, nicht ohne die Zusammenarbeit mit den Partnern in der Allianz und den jeweiligen Regionen lösen lassen werden. Auch wenn Teile der amerikanischen Rechten, beispielsweise Marshall Whitman vom konservativen Hudson Institute, fordern, den Feldzug gegen das Böse in der Welt erst einmal zu planen und dann Alliierte zur Beteiligung aufzufordern, weiß die Bush- Administration, dass die USA die Welt heute mehr denn je brauchen.

Wenn der Feldzug gegen die Täter des 11. Dezember vorüber ist, dann müssen die USA sich entscheiden, welchen Platz sie in der neuen Weltordnung einnehmen wollen. Das US-Außenministerium wirbt innerhalb der Administration dafür, die USA wieder aktiver am Krisenmanagement im Nahen Osten und anderen Krisenregionen der Welt zu beteiligen. (Sowohl von ganz links als von ganz rechts ist allerdings auch die gegenlautende Forderung zu hören: sich aus den Krisenregionen der Welt militärisch und auch politisch nun ganz zurückzuziehen.)

Leon Furth, ehedem außenpolitischer Chefberater des Präsidentschaftskandidaten Gore, fordert eine erneute Zuwendung zur multilateralen Zusammenarbeit und zu den Vereinten Nationen. Die globalisierungskritischen Gruppen und Teile der demokratischen Partei mahnen an, den Zusammenhang zwischen Sicherheitsfragen und Globalisierungstendenzen ernster zu nehmen. Wenn die Ereignisse vom 11. September überhaupt eine Chance zum Positiven bieten, dann diese.