Vom Vermögen, zu unterscheiden

Der "neue Krieg" im Angesicht der Jugoslawien-Erfahrungen

Dunja Melcic

Als vor zehn Jahren der Krieg in Kroatien anfing, dachten dort viele, dass es nicht ohne längerfristige globale Konsequenzen bleiben kann, wenn Verbrechen vor den laufenden Kameras der Weltmedien verübt werden, ohne dass ihre Urheber bestraft werden. Tag für Tag bombardierte eine aus Belgrad dirigierte Armee die ostslawonische Stadt Vukovar, zerstörte mit Raketen Dubrovnik und Umgebung und vertrieb die Bevölkerung aus den eroberten Dörfern und Städten. Man sah und wusste, wer das alles tat. Ein Eroberungskrieg mit vielen klassischen Elementen fand statt, aber man tat so, als würde es sich um etwas anderes handeln, als müsste man in erster Linie zwischen den zu "Konfliktparteien" erklärten Angreifern und Angegriffenen verhandeln, statt die Gewalt der Aggressoren zu stoppen und die Urheber zu sanktionieren.

Die Infamie setzte sich in Bosnien-Herzegowina fort, weil man eben die serbische Kriegsmaschinerie in Kroatien nicht zerstörte, sondern ihr blauäugige "peace-keeping"-"Lösungen" auferlegte, die es ihr ermöglichten, den Krieg gegen die Zivilbevölkerung im Nachbarland fortzusetzen. Ein kroatischer Intellektueller zieht nun das Fazit, dass die gleiche Niedertracht, die auf den Straßen der in Schutt und Asche gelegten Stadt Vukovar durch Blutorgie und Siegesrausch besoffen vor der ganzen Welt johlte und tanzte, auch am 11. September in New York tausendfach mordend zugeschlagen habe. Das läuft darauf hinaus, dass der Westen seine proklamierten Werte in Kriegssituationen in Europa nicht verteidigt hätte und dadurch dem Bösen das Tor öffnete, das nun in sein Herz eingeschlagen hat.

Mir scheint dieser Vergleich schief. Was man vergleichen kann, ist die Ebene der Reaktionen, aber nicht jene der Ursachen. Doch auch sonst ist auf beiden Ebenen alles zu verschieden. Einmal wird ein klassischer Eroberungskrieg in eine Stammesfehde uminterpretiert, um eigene Beteiligung auszuschließen. Die Falschdeuter saßen damals in den Zentren der Macht. Mögen auch die Interpretationen und Interessen von Bonn, Paris, London und Washington Anfang der Neunziger sich in einigem unterschieden haben, heraushalten aus dem Schlammassel wollten sie sich alle. Und so wurden für eine ziemlich klare Sache komplizierte Hintergrunderklärungen geliefert, die sie unübersichtlich machten. Eine Ironie der Geschichte könnte man es nennen, dass Bill Clinton in seiner Rede, mit der er dem amerikanischen Volk die Notwendigkeit der militärischen Intervention gegen Belgrad erklärte, zum ersten Mal den Hergang der serbischen Aggressionen ziemlich richtig geschildert hat. Auf einmal war die Geschichte, wie sie sich in Vukovar, Dubrovnik, Zagreb, Sarajevo und Pristina zugetragen hat, in ihrer grausamen Einfachheit auf die Weltbühne gelangt – wenn auch nur für diese kurze Zeit der Begründung der militärischen Operationen nach dem Scheitern der Rambouillet-Verhandlungen.

Doch der Krieg, den die Angriffe auf das WTC und Pentagon bedeuten, ist etwas ganz anderes; dieser "neue Krieg" ist grundverschieden von jenem klassischen, den die jugo-serbischen Kräfte auf den Ruinen des sich auflösenden Jugoslawien entfacht und geführt haben und den die westliche Welt in dieser Form nicht wahrhaben wollte. Gegen den sichtbaren, lokal agierenden Feind hätte man auch mit klassischen Mitteln intervenieren können, die noch der Kriegs- oder Nachkriegsepoche angehörten. Das hätte bedeutet: Kriegsschiffe vor Dubrovnik zu zerstören, die für alle sichtbar anrückenden Panzerkolonnen von Belgrad nach Vukovar zu zerstören und mit weiteren Sanktionen zu drohen im Falle jedes weiteren Angriffs auf Städte. Der Krieg hätte gestoppt werden können und es hätte keine weitere Eskalation in Bosnien-Herzegowina gegeben.

Im Unterschied zu dieser klassischen Kriegssituation hat man in der jetzigen Lage des global operierenden Terrorismus einen mehr oder minder unsichtbaren Feind, der auf unterschiedliche Lokalitäten einschlägt, um einen weltanschaulichen Feind zu bekämpfen und nicht, um Territorien zu erobern. Diese Krieg führende Partei ohne Armee, greifbare Oberbefehlshaber und nationalstaatliche Institutionen lässt sich mit Instrumenten, die der Erfahrung des Zweiten Weltkrieges und der Nachkriegszeit erwachsen sind, nicht bekämpfen. So kommt es hier aus anderen Gründen zu einer Definitionsaporie: Sind wir "at war"? Will man die terroristischen Attacken auf Amerika Krieg nennen, muss man auch von der klassischen Definition des Krieges abrücken und ihn neu definieren. Der Name "new war" kann diese Funktion nicht erfüllen und so ringt man um weitere Explizierungen wie "asymmetric war". Klar ist mit einem Male auch geworden, dass die Post-Vietnam-Methoden ("antiseptic techniques") eines Krieges ohne eigene Verluste und der Verzicht auf Bodentruppen gegen "low-tech guerrilla" nicht mehr gelten.

Der Definitionskampf hat gleich nach dem Anschlag begonnen. Die Macht der Benennung hängt mit der politischen zusammen. Welche Rolle die intellektuellen Diskussionen dabei spielen, hängt unter anderem von der Redlichkeit der Beteiligten und von der Klarheit der Gedanken ab, die dabei Verwendung finden. Die Diskussionen können der Präzisierung eines so schwierigen Sachverhaltes, wie der "neue Krieg" (der eigentlich ein bislang unbekannter ist), und der notwendigen Differenzierung dienen – oder sie können die ohnehin sehr komplexe Lage noch unübersichtlicher und unentwirrbar machen. Gegenwärtig findet beides statt.

Einer klaren Sprache bediente sich in seiner ersten Reaktion der kroatische Präsident Mesic. Er wandte sich gleich am nächsten Morgen an die kroatische Öffentlichkeit, verurteilte die Verbrechen und jedweden Terrorismus mit klaren und scharfen Worten und nannte gleich die strategischen Eckpunkte: "Seit Dienstag gibt es keine Neutralität mehr. Es gibt nur die Wahl: entweder sie oder wir". Er forderte ein weltweites Bündnis gegen den Terrorismus und sagte: "Die Republik Kroatien wird auf keinen Fall ihre bilateralen Interessen mit welcher Organisation auch immer, einem Staat oder einer Ländergruppe, dem allgemeinen Interesse der Bekämpfung des Terrorismus vorziehen."

Das Vermögen, zwischen den elementaren Prioritäten und sonstigen Aspekten, Ebenen und Interessen zu unterscheiden, ermöglicht zusammen mit der eigenen Erfahrung des Krieges vor zehn Jahren, die Sicherheit seines Urteils. Ein Kommentator der NZZ (14.9.01: "Sind wir alle Amerikaner?") hat uns in einer ironischen Wendung dagegen einen Wink gegeben, wie in den intellektuellen Diskussionen gedankliche Sackgassen entstehen: "Wer Sicherheitspolitik als Sozialpolitik begreift, wird ... zum Schluss kommen, man müsse nicht den Terrorismus selbst, sondern seine Wurzeln bekämpfen." Viele Arten solcher Verwechslungen gibt es, und sie können durchaus folgenreich sein. Ich erinnere mich noch, wie ich bei den vielen aufgeregten Podien hierzulande während des Krieges in Kroatien bildhaft die Verteidigungssituation darzustellen versuchte, indem ich zu sagen pflegte, dass auch das Polen Pilsudskis 1939 ein autoritärer und wenig demokratischer Staat war – und trotzdem nicht nur ein Recht auf Verteidigung hatte, sondern auch niemand dieses in Frage stellt. Meine Kontrahenten zogen es vor, in dem Faktum einer rudimentären Demokratie unter Tudjman ein viel schlimmeres Verbrechen zu sehen, als es die elementare Situation des bewaffneten Angriffs auf das Land darstellte. Eine beträchtliche Zahl kroatischer Intellektueller redete auf der Linie, es sei wichtiger, die Demokratie zu entwickeln, als den Krieg zu gewinnen.

Es war damals klar, dass der Angriff nicht einfach Tudjmans Nationalismus galt, und dafür gab es zahlreiche Beweise, die darauf hinauslaufen, dass der Angriff auch bei einer anderen kroatischen Regierung erfolgt wäre; trotzdem zog man es vor, den kroatischen Nationalismus, das faschistische Regime während des Zweiten Weltkrieges und die mangelhafte Demokratisierung als erklärenden und entschuldigenden Hintergrund des "serbischen Aufstands" hinzustellen und darüber die reale Situation zu verschleiern.

Nun es gibt eine "international community" eingebildeter linker Weltdeuter, deren eindeutigster Repräsentant Noam Chomsky ist, bei dem sich wie durch einen pawlowschen Reflex der Massenmord in New York und in Washington in die Anklage gegen "American missiles smashing into Palestinian homes" verwandelt (The Nation) und der uns weismachen will, dass die amerikanische Politik diese Katastrophe verschuldet oder mitverschuldet hätte. Aber erstens gibt es nichts auf dieser Welt, was diese Tat irgendwie in eine – wie auch immer geartete – Verursachungskette einbinden könnte, und zweitens laufen solche Hintergrunderklärungen (im Grunde zynische ideologische Verklärungen) stillschweigend auf die Behauptung hinaus, dass diese Täter in den islamischen, arabischen, palästinensischen Gesellschaften gar nicht als Verbrecher gelten, und als wären Menschen, die ein solch monströses Verbrechen verüben, nur in unseren "westlichen" Augen, nicht aber in den Augen von Arabern, Muslimen, der Palästinenser, Saudis oder Iraner verrückte Terroristen.

Solchermaßen ideologisch voreingenommene, reflexartig reagierende Intellektuelle verwechseln nicht nur die Ebenen, sie stiften auch gedankliches Chaos in einer sehr komplizierten Situation. Das betrifft nicht nur die Definition des Krieges oder eben des Nicht-Krieges, sondern auch seinen Zustand. Dieser tauchte in Kroatien vor zehn Jahren in einer gegenüber der jetzigen Situation noch einfachen Form auf. Man hatte eine Front "der Serben" als Angreifer und dann gab es auch etliche Serben, die auf der anderen Frontseite lebten. Die Stadt Vukovar ist dafür das beste Beispiel: Die Serben waren hier genauso Angegriffene wie die Kroaten und alle Vukovarer, die in der umzingelten Stadt blieben. An der Verteidigung der Stadt beteiligten sich Menschen aus vielen Volksgruppen, so auch Serben; ähnlich war es in Sarajevo. Nur einige haben verdeckt ausgeharrt und auf den Sieg des Okkupanten gewartet. Als dieser die Stadt eroberte, halfen einige dieser Serben dabei, dass Menschen, mit denen sie das gleiche Schicksal drei Monate lang geteilt hatten, an ihre Verfolger und Mörder ausgeliefert wurden. Als der Krieg begann, schossen etwa in Zagreb und anderen Großstädten Heckenschützen, die gleichzeitig auch Nachbarn waren, aus hohen Gebäuden wahllos auf  normale Passanten. Es kam zu einer mittelmäßigen Hysterie in solchen Ortsteilen, wo viele Angehörige der JVA, sprich "Serben", wohnten.

Wenn in solchen Situationen Paranoia entsteht, dann ist sie nicht einfach grundlos noch verdankt sie sich bloß so genannter faschistoider Mentalitäten der Mehrheitsbevölkerung. Eine multikulturelle Gesellschaft verliert nicht gleich ihren zivil-freiheitlichen Charakter, weil es, wie jetzt in den Vereinigten Staaten, zu Angriffen und Drohungen gegenüber Arabern kommt. Allerdings kommt es jetzt auf den Umgang der Politik(er) und der meinungsmachenden Eliten mit diesem Problem an. Es ist etwa durchaus möglich, dass sich unter den Opfern in New York nicht nur Landsleute der Attentäter, sondern sogar ihre ehemaligen Mitschüler befinden. Ein weltweites Bündnis gegen den global agierenden Feind ist auch deshalb absolut notwendig, damit dieser "Krieg" nicht den Charakter einer falschen polarisierenden kulturellen, konfessionellen oder nationalen Front bekommt.