Mechanismen des Terrors in Russland und im Westen

Erhard Stölting

Angesichts der Terroranschläge in New York und Washington solidarisierte sich die russische Regierung und bot Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des Terrorismus an. Die russische Bevölkerung war nicht weniger entsetzt als die der westlichen Länder; CNN wurde auch in die russischen Fernsehnetze eingespeist. Dass Russland einige Waffenhandels-Beziehungen zu manchen "Schurkenstaaten" – darunter zum Irak, zum Iran und zu Nordkorea – zu pflegen scheint, bleibt davon unberührt.

Das russische Mitgefühl hat eine Beimengung von Genugtuung: Es waren die Amerikaner, die Guerilleros in Afghanistan finanziert und aufgerüstet hatten. Die westliche Solidarität blieb leise, als tschetschenische Terroristen Geiseln nahmen und schließlich im September 1999 große Mietshäuser sprengten. Nachdem Russland mit dem zweiten Tschetschenienkrieg zurückzuschlagen begann, sah die westliche Öffentlichkeit vor allem die Menschenrechtsverletzungen und "humanitären Katastrophen". Tatsächlich gingen die russischen Truppen mit einem außergewöhnlichen Maß an Inkompetenz und Brutalität vor. Aber Ursache für sie war auch eine genuine Hilflosigkeit angesichts eines schwer greifbaren Feindes.

Vor allem aber bekümmerte die Blindheit des Westens, die die Gefahr des muslimischen Fundamentalismus leugnete. Die russische Bezeichnung der Fundamentalisten als "Wahhabiten" ist zwar ungenau. Aber der russischen Seite erscheint es offenkundig, dass in Tschetschenien und in Mittelasien jene muslimischen Terrornetze agieren, die jetzt auch in Amerika zugeschlagen haben.

Tatsächlich scheint es einen gemeinsamen Terrormechanismus zu geben: Auf der einen Seite stehen gut ausgebildete junge Männer, die bereit sind, zu töten und zu sterben. Ihren hochgerüsteten Gegnern sind sie militärtechnisch meist weit unterlegen. Daher kämpfen sie überwiegend aus dem Hinterhalt. Ihre mehr oder weniger hochgerüsteten Gegner sind derartigen Angriffen hilflos ausgeliefert und reagieren mit wütenden Gegenschlägen auf die Zivilbevölkerung.

Seit dem Zweiten Weltkrieg wurde die Zivilbevölkerung zum systematischen Ziel von Kriegshandlungen. Schließlich machten die ABC-Waffen die zivile Bevölkerung zum bevorzugten Objekt der Vernichtung. Die modernen Guerillastrategien unterlaufen die technische Hochrüstung mit Hilfe alltäglicher, vergleichsweise leicht beschaffbarer und versteckbarer Waffen. Die modernen Terrorstrategien gehen weiter: Der Terror richtet sich gegen "Unschuldige", das heißt gegen unbewaffnete Personen, die mit dem Konflikt nichts zu tun haben. Die Staatsmacht hat diesem modernen Terror keine effektiven Mittel entgegenzusetzen. Manche verweisen darauf, dass die Lösung der sozialen und wirtschaftlichen Ursachen hilfreich sein könnte; sie übersehen manchmal, dass sie nur lösbar sind, wenn es handlungs- und kompromissfähige Akteure gibt.

Auch die Gegenschläge zielen auf eine Zivilbevölkerung, und zwar auf jene, der die Terroristen entstammen. Aber mit diesen Gegenschlägen wächst der gesellschaftliche Rückhalt der Terroristen. Es ist für sie daher durchaus rational, gewalttätige und summarische Repressalien gegen die eigenen Bevölkerungen zu provozieren. Der Überfall tschetschenischer Gruppen auf russische Armeeposten in Dagestan sollte die üblichen russischen Repressalien hervorrufen und die Bevölkerung Dagestans auf die Seite der Terroristen treiben.

Auf der anderen Seite gibt es spiegelbildliche Wirkungen. Die tschetschenischen Terrorakte vom Herbst 1999 haben nicht nur die militante Geschlossenheit der russischen Bevölkerung geweckt, sie verstärkten auch den aggressiven antikaukasischen Rassismus in Russland selbst, der seinerseits die Aggressivität der offiziellen Streitkräfte stützte.

In vergleichbarer Weise stärken die Terrorakte in Amerika rassistische Vorurteile gegen Immigranten aus dem Nahen Osten sowie gegen Muslime überhaupt. Die generalisierenden Zuschreibungen und die mit ihnen einhergehenden Pogromstimmungen wiederum, wecken bei ihren Opfern Sympathien für den Terrorismus und für die Weltbilder, die ihn grundieren.

Siegreiche Guerilla- und Terrorbewegungen tendieren zur Einrichtung totalitärer Überwachung. Sie haben nicht nur ein revolutionäres Ziel umzusetzen, sie wollen auch jene Kriegstechniken bei anderen verhindern, die sie selbst an die Macht brachten. Die Gesellschaft wird geknebelt, sodass sie keiner eigenen Bewegung mehr fähig ist und verelendet.

Vergleichbare totalitäre Gelüste entstehen aber auch in den Gesellschaften, die terroristisch angegriffen wurden. Die Terrorakte in Amerika weckten Wünsche nach einer undifferenzierten massiven Vergeltung und einer strikten Kontrolle aller potenziell Verdächtigen. In Russland hatte der tschetschenische Terror das Bild Stalins in der Volksmeinung wieder aufpoliert.

Der moderne Terrorismus ist in seinen öffentlichen Wirkungen auf die modernen Medien angewiesen. Im zweiten Tschetschenienkrieg haben die russische Regierung und die Armee begonnen, die Medien systematisch an die Kandare zu nehmen und zu lenken. Das hat Russland nicht in eine totalitäre Gesellschaft zurückverwandelt, aber es zeigt, wie schon die Suche nach einer wirkungsvollen Bekämpfung von Terror liberale Gesellschaften zerstören kann.