"Sie hatten nichts zu verbergen"

Wider die Legende vom Kampf der Kulturen

Michael Werz

Die Territorialität der Konflikte hat sich geändert, die Frontverläufe werden undurchsichtiger. Es gibt keine stählernen und steinernen Orientierungspunkte mehr wie die Berliner Mauer. Nun verlaufen die Grenzen im Innern moderner Massengesellschaften nicht entlang der Befestigungslinien von Nationalstaaten oder konkurrierender politischer Systeme. Er war eine Kriegserklärung gegen den American Way of Life, ihre Akteure kommen aus einer ebenso gut organisierten wie unsichtbaren Organisation. Ein konkreter Gegner ist kaum auszumachen.

Neu sind auch die Tätertypen. Die dazu erforderlichen Fähigkeiten haben sie sich in Deutschland, den USA und anderen westlichen Staaten angeeignet. Die meisten Attentäter verbrachten die letzten Jahre und Jahrzehnte ihres Lebens auf einer internationalen, zuweilen studentisch-sparsam anmutenden Odyssee. Bei dem Anschlag, der das World Trade Center 1993 traf, agierten noch klandestine Zellen aus der Illegalität. Die bisher festgenommenen neunzehn Entführer sind eher durchschnittliche Angehörige der Mittelschicht als fanatische Krieger. Sie lebten, in aller Offenheit und über Jahre hinweg, ihren Alltag in Deutschland oder den USA und verfügten über die entsprechenden kulturellen und sozialen Kompetenzen. Zumindest einige der Neunzehn von New York und Washington hätten mit ihrer Bildung, sprachlichen Kompetenz und ihren beruflichen Abschlüssen eine gesicherte Existenz sowohl in nahöstlichen wie westlichen Gesellschaften erreichen können.

Die Entwicklung von Muhammed Atta, der viele Jahre in Hamburg studierte und über die städtische Entwicklung der alten, nordsyrischen Wirtschaftsmetropole Aleppo im Frühjahr 1999 seine Diplomprüfung mit Bestnoten ablegte, ist in dieser Hinsicht vielleicht das größte Rätsel. Seinen Kommilitonen und Professoren schien er die längste Zeit als säkularer Mann, doch im Verlaufe seines Studiums änderten sich seine Überzeugungen, sein Auftreten, sein Aussehen. Zurzeit sprechen viele Indizien dafür, dass er sich erst während seines Aufenthaltes in Deutschland einer radikalen Organisation anschloss. Ein Bekannter sagte der Hamburger Polizei, dass während dieser Zeit irgendetwas geschehen sei. Atta habe unter Druck gestanden, dennoch schien er "eher jemand zu sein, der sich in diesem Land integrieren würde, als solch ein furchtbares Verbrechen zu begehen". Ähnlich überraschend der gebürtige Libanese Ziad Samir Jarrah. Auf ihn stieß die deutsche Polizei nur, weil er von seiner in Bochum lebenden Freundin vermisst gemeldet worden war; auch er studierte Elektrotechnik in Hamburg, hatte in Bonn Deutsch gelernt und bei einer Gastfamilie gelebt. Sein Onkel bestätigte, dass von Religiosität und der Beachtung von strikten Glaubensregeln angesichts von Freundin, Kneipenbesuchen und Tanz nicht die Rede sein konnte.

Das Leben von Atta und Jarrah widerlegt die kulturalisierende Unterscheidung von eigener und fremder, von abendländischer und nahöstlicher Alltagskultur als Erklärung. Sie wohnten in Hamburg in einer gemeinsamen Wohnung mit dem Deutschen Said Bahadji – er reiste kurz vor dem Anschlag nach Pakistan. Wer hier mit dem "Clash of Civilizations" argumentiert, begibt sich auf überaus unsicheres Terrain. Denn die angepassten Studenten, die viele Jahres ihres Lebens in Deutschland verbrachten, haben mit ihrem Angriff auf New York einer Lebensweise den Krieg erklärt, die auch ihre eigene gewesen ist.

Bei den anderen Verdächtigen, die in den USA lebten, ergibt sich ein ähnliches Bild. Die Beteiligten lebten in Einfamilienhäusern in ruhigen Wohnstraßen, führten ein unauffälliges Familienleben. Einige ihrer Kinder gingen in öffentliche Schulen und hatten Freunde in der Nachbarschaft. "Sie hatten nichts zu verbergen", sagte einer der Nachbarn von Abdul Rahman Alomari, dem saudi-arabischen Piloten aus Vero Beach in Florida der New York Times<D>. Der Satz bringt die paradoxe Situation auf den Punkt. In Daytona Beach sammelte das FBI Informationen über einen weiteren Beteiligten. Waleed Al Shehri wurde an der Embry-Riddle Aeronautical University ausgebildet, verfügte über ein Stipendium der saudi-arabischen Regierung und machte 1997 seinen Abschluss. Der erfolgreiche und stille Student erschien "keinesfalls als religiöser Fanatiker", erklärte einer seiner Professoren. Auch Muhammed Atta, der nicht nur Deutsch, sondern auch Englisch sprach, wird von Zeugen in den USA als besonders zuvorkommend und höflich beschrieben.

Es sind nicht die Biografien von Verblendeten, die sich über Jahre hinweg verstellen, sondern es handelt sich um angepasste Angehörige der Mittelschicht, die weder durch langjährige Erfahrungen noch durch überdurchschnittliches Wissen von ihrer verheerenden Entscheidung abgehalten wurden. Es passt ins Bild, dass ein weiterer Beteiligter der Sohn eines wohlhabenden saudi-arabischen Diplomaten sein soll, der viele Jahre in den USA verbrachte. Über Ziad Samir Jarrah, der sich in dem Flugzeug befand, das in Pennsylvania abstürzte, sagte eine seiner Nachbarinnen: "Er war jung, er fügte sich gut ein und versuchte, sich wie ein Geschäftsmann zu benehmen." Jarrah verfügte über eine abgelaufene Fluglizenz aus Hamburg.

Für die Mittelstandsthese spricht ebenfalls der ordentliche Verkauf der eigenen Möbel, bevor die Familienangehörigen in den Nahen Osten zurückgingen. Auch die via Internet durchgeführten Buchungen der elektronischen Flugscheine passen ins Bild. Man buchte die zwei Tickets für die Maschine, die den South Tower traf, für über 10.000 DM pro Stück in der ersten Klasse. Die Reservierungen wurden von einem Mietcomputer in einem der populären "Kinko’s" Kopierläden in Florida gemacht. Auch im letzten Teil der Ausbildung gingen Atta und sein Freund Marwan Alshehhi überaus ordentlich vor. Sie besuchten für jeweils 20.000 DM eine Flugschule in Florida und kamen, fünf Monate lang, jeden Tag mit dem Rad am frühen Morgen zum Unterricht. Das Training in einem Boeing 727-Flugsimulator in Opa-Locka, ganz in der Nähe von Miami, war der Abschluss einer ebenso langwierigen und zielgerichteten Ausbildung.

Die Tatsache, dass sieben der Verdächtigen unbeachtet in Delray Beach an Floridas Atlantikküste lebten – einer Kleinstadt mit sechzigtausend Einwohnern, einer sehr kleinen orientalischen Community und ohne Moschee oder islamisches Zentrum – belegt ebenfalls, dass die Berge des Hindukusch geografisch mindestens ebenso weit entfernt waren wie kulturell. Das ist die eine Seite im Leben der Täter des 11. September.

Die andere Seite wird allenthalben mit Osama Bin Ladin assoziiert. Doch sein Name ist vor allem ein Etikett, ein Mantra des Terrors. Seine Person steht wahrscheinlich nicht einmal im logistischen Zentrum des Angriffes, sondern ist lediglich Teil eines ideologischen Zusammenhanges, der sowohl den Osten, wie den Westen umfasst. Die Art und Weise der Vorbereitung und Durchführung des Angriffes zeugt von großem Selbstbewusstsein, wie auch der Beherrschung moderner Technologien und Kulturtechniken. Und er hat eine internationale Reichweite. Augenblicklich wird in Bochum und Hamburg, Daytona Beach, Miami, Rom und Paris, Brüssel, Amsterdam, auf den Philippinen, in Zürich und in Mexiko ermittelt. Auch wenn nur an der Hälfte dieser Orte wirklich Stützpunkte und Unterstützer gefunden werden, ist klar, dass der Angriff eine globale Dimension hat.

Der Lebenslauf Osama Bin Ladins kann allerdings über die neue Terrorstruktur Aufschluss geben. 1982 ging er an den Hindukusch und beteiligte sich für drei Jahre am Kampf gegen die gottlosen Kommunisten. Nach der Vertreibung der Sowjetarmee, blieben viele der 50.000 internationalen Kriegsveteranen im Land. Bin Ladin gründete die al Qaida – wörtlich "die Basis" –, ihr schlossen sich viele ehemalige Mujaheddin an. Sie beteiligten sich an Konflikten in Kaschmir, Tschetschenien, Nagorny Karabach, Tadschikistan, Bosnien und Algerien. Religiöse Differenzen spielten beim Kampf gegen den Einfluss des Westens eine untergeordnete Rolle. Es handelt sich um einen generalisierten Islamismus, der selbst ein modernes Phänomen ist. Er entstand unter anderem aufgrund der politischen Frustration angesichts der Undurchlässigkeit arabischer Gesellschaften. Diese dezentrale und internationale Struktur ist extrem widerstandsfähig. Dafür spricht unter anderem, dass die CIA bereits seit 1998 von Bill Clinton die Genehmigung erhielt, einen bislang erfolglosen verdeckten Krieg gegen Osama Bin Ladin zu führen.

Aus den Söldnern in fundamentalistisch begründeten Bürgerkriegen und bilateralen Konflikten sind inzwischen internationale Attentäter geworden. Weltweit werden unter Gleichgesinnten und islamischen Wohltätigkeitsorganisationen die Mittel für militante Aktivisten aufgebracht. Es gibt kaum Zweifel daran, dass ein Großteil der finanziellen, technischen und wohl auch kulturellen Ressourcen, die für den Angriff notwendig gewesen sind, aus jenen westlichen Gesellschaften kamen, die als Ziel galten. Das betrifft nicht nur die USA, sondern auch Europa. Täter wie Opfer sind in allen Regionen zu Hause, die Listen der Herkunftsländer der Vermissten von New York liest sich wie das Protokoll der Vollversammlung der Vereinigten Nationen.

Aber auch bei den Angreifern handelt es sich um durchschnittliche, traditionslose Mittelschichtsangehörige. An den Kampf der Kulturen glauben nur die, die nicht nachdenken wollen. Darin liegt die Komplementarität von Huntington und Bin Ladin.