Rechts-Kommentar:

Innere Sicherheit

Uwe Günther

Nach den Terroranschlägen von New York und Washington wird alles anders – so tönt es landauf, landab. Wird alles anders? – Liest man nach, was Bundesinnenminister Schily plant, kann man Zweifel bekommen: Der obligatorische Fingerabdruck im Personalausweis, die Wiedereinführung der Kronzeugenregelung, die Auskunftspflicht von Banken gegenüber dem Verfassungsschutz, der systematische Austausch von Daten zwischen Verfassungsschutz, Bundeskriminalamt und Bundesnachrichtendienst und die Rasterfahndung scheinen weniger auf neue Herausforderungen als auf alte parteipolitische Streitlinien im Felde der inneren Sicherheit zu reagieren.

Die Debatten der Siebziger- und Achtzigerjahre über innere Sicherheit waren charakterisiert durch einen hohen Grad an Ritualisierung. Jede neue Tat der RAF veranlasste die Bundesregierung zu neuen Vorschlägen, die bestehenden Gesetze zu ändern mit dem Ziel, sich selbst als besonders zupackend und die Opposition als besonders weich darzustellen. Im historischen Rückblick ist es durchaus zweifelhaft, ob die Gesetzesänderungen irgendeinen Einfluss auf das Ende der RAF gehabt haben. Deren Scheitern ist im Scheitern des Konzepts begründet. Die "unterdrückten Massen" hatten sich nicht der RAF angeschlossen; im Gegenteil, sie waren von den Taten der RAF angewidert. Aus der angestrebten Massenbewegung wurde eine Sekte.

Schily knüpft an Verhaltensmuster der Vergangenheit an: Denn auch der obligatorische Fingerabdruck im Personalausweis hätte nicht dazu geführt, auf Personen aufmerksam zu werden, die bis zur Tat nie aufgefallen sind. Die Kronzeugenregelung hätte Täter, die ihr Leben bereit sind zu opfern, nicht motiviert, vorher wegen der Aussicht auf eine mildere Strafe auszusteigen. Der dichteste Austausch der Daten und die intensivste Rasterfahndung hätten nicht den Verdacht auf Personen gelenkt, die sich normal verhalten haben. Das juristische Arsenal, das Schily vorschlägt, ist bestenfalls geeignet, die Vorstellung eines starken Staates zu produzieren, ohne ihn zu schaffen. Unabhängig davon, ob Schilys Vorschläge ganz, teilweise oder gar nicht realisiert werden, an der objektiven Sicherheitslage werden sie nichts ändern. Allerdings: Aus Sicht der SPD, wenn nicht aus der Sicht der Regierungskoalition haben sie allerdings den Charme, das "Kernthema" der CDU/CSU zu besetzen. Überdies vermitteln Schilys Aktivitäten bei der Bevölkerung den Eindruck, es werde etwas getan, und bereits das trägt dazu bei, subjektive Unsicherheitsgefühle zu mildern.

Die Terroranschläge stellen tatsächlich eine neue Herausforderung dar. Der demokratische Rechtsstaat lebt von Voraussetzungen, die er nicht selbst schafft. Zu diesen Voraussetzungen zählt, dass Bürger und Bürgerinnen in ihren Mitbürgern und Mitbürgerinnen Personen sehen, die prinzipiell die gleichen Werte teilen wie Achtung vor dem eigenen Leben und dem Leben der anderen und die Respektierung grundgesetzlich geschützter Freiheiten. Attentäter, denen ihr eigenes Leben und das Leben anderer lediglich Instrumente zur Verwirklichung überirdischer Ziele sind, und die erst mit der ersten (und letzten Tat) auffällig werden, erschüttern eine Gesellschaft im Kern, weil das an sich Selbstverständliche nicht mehr selbstverständlich ist. Wenn unauffälliges, also gesetzestreues Verhalten Indikator für verbrecherische Absichten sein kann, wird das Verhalten meines Nachbarn mir und mein Verhalten dem Nachbarn zum Problem – und gegen den Verlust gesellschaftlichen Urvertrauens als unerlässliche Voraussetzung für die Existenz von Staat und Gesellschaft helfen keine Gesetze.

Machen wir uns nichts vor: Gelingt es nicht, die Täter der Terroranschläge von Washington und New York und ihre Helfershelfer zur Verantwortung zu ziehen, und gelingt es nicht, Konturen einer Weltsicherheitsarchitektur deutlich werden zu lassen, die die Dritte Welt einbezieht, werden wir dauerhaft mit einem Gefühl der Unsicherheit leben müssen, und es wird weiter hektische Betriebsamkeit auf dem Feld der inneren Sicherheit geben. Umgekehrt gilt: Werden die Täter gefasst, wird sich die Debatte alsbald beruhigen. Allerdings: Sollten die Anschläge von Washington und New York keine singulären Fälle bleiben, also Attentate unter Ausnutzung rechtsstaatlicher Strukturen die Form der kriegerischen Auseinandersetzung der Zukunft sein, würde der Ausnahmezustand zum Normalfall und der Rechtstaat in seinen Fundamenten bedroht, weil wir dann über Maßnahmen nachdenken müssten, gegen die Schilys Vorschläge sich als liberal abheben würden.