Auf der Flucht vor der Wirklichkeit?

Eine öffentliche Antwort auf den offenen Brief von Kerstin Müller, Claudia Roth, Jürgen Trittin, Ludger Vollmer


Joschka Fischer

Mit einigem Erstaunen habe ich Euren jüngst verfaßten "offenen Brief" gelesen. Erstaunt war ich vor allem deshalb, da ich ganz offensichtlich der Anlaß für diesen "offenen Brief" gewesen bin: "Wir schreiben diesen Brief nun, weil Joschka auf dem Bonner Perspektiv-Kongreß, statt die Abgrenzung zu Rühe zu klären, in öffentlicher Rede und mit programmatischem Geltungsanspruch einen bemerkenswerten Schritt weiter gegangen ist. Er hat nicht nur die Interventionforderung für Bosnien verteidigt, sondern eine allgemeine Interventionspflicht der UNO bei Völkermord gefordert. Da diese Formel für die Bundesversammlung in Bremen eine Rolle spielen wird, als Einfallstor für eine praktisch umfassende Befürwortung von Kampfeinsätzen, möchten wir vorab eine Klärung dazu in den Diskussionen der Kreisverbände anregen." Als ich das las, war ich fast geplättet angesichts dieser unverhofften und mit ungewöhnlicher Zeitverzögerung durchschlagenden Wirkung meines Diskussionsbeitrags auf dem Bonner Strategiekongreß. Ich könnte es mir in meiner Antwort nun recht einfach und demnach auch kurz machen, und lediglich darauf hinweisen, daß an meiner Position weder etwas neu war und ist, demnach also für die beteiligten Briefeschreiber auch nicht schockierend gewesen sein dürfte. Ich habe diese Position der Interventionspflicht bei Völkermord - es ist dies für mich der unveräußerliche Kern des Antifaschismus und seines Vermächtnisses des "Nie wieder Auschwitz!" -, schon immer vertreten, auch und gerade vor und auf der Bonner außerordentlichen Bundesdelegiertenversammlung unserer Partei. Und ich könnte weiter anführen, daß zumindest Ludger Volmer und Jürgen Trittin dies genau wissen, weil die in den Bonner Mehrheitsantrag nicht aufgenommene "Völkermordklausel" mich veranlaßt hat, gegen diesen Antrag zu stimmen und damit eine der 46 Nein Stimmen damals abzugeben. Aber so einfach will ich es mir nicht machen, da Euer Brief, vor allem seine Begründung, nicht nur eine ausführliche Antwort verdient, sondern nachgerade erzwingt.

1. Ihr zitiert mich schlicht falsch weil unvollständig. Und auf die falsche Darstellung meiner Position folgt noch eine absurde Unterstellung, denn aus der "Interventionspflicht" wird bei Euch flugs bereits in der Überschrift eine ausschließlich "militärische" und aus der "UN" wird - Hokuspokus - bei Euch "Deutschland". "Man kann", schreibt Ihr in herrlich grüner Arglosigkeit, die an frühere Jahre und Umgangsformen unseligen Angedenkens erinnert, "aus Joschkas Position einen weltweiten Kampfauftrag der Bundeswehr herauslesen, ein Ansatz, den wir nichteinmal Rühe anlasten würden". MAN kann das überhaupt nicht, liebe Verfasserinnen und Verfasser des "offenen Briefes", wohl aber scheinen das Parteifreundinnen und -freunde zu können! Absicht oder mangelndes Erinnerungsvermögen? Ich gehe lieber von der zweiten Annahme aus, aber es wäre für Euch ein leichtes gewesen, die schriftlich verfaßte Vorlage meiner Rede auf dem Strategiekongreß von mir zu treuen Händen zu erhalten. Denn anders als es sonst meine Gewohnheit ist, habe ich diese Rede vorher schriftlich ausgearbeitet und vom Blatt verlesen. Als ob ich es geahnt hätte...

Folgt man Eurem "offenen Brief an die Partei", so erhält man den Eindruck, der Fischer geht weit über Rühe und Kohl hinaus, ja er spreche sich am Ende gar - exakt 900 Jahre nach Papst Urban II. - für eine Art Kreuzzug in einem neuen Weltkrieg gegen den weltweiten Völkermord unter der Führung Deutschlands aus! Wenn Ihr diese Interpretation allen Ernstes glaubt, was ich allerdings kaum annehme, dann verhaltet Ihr Euch ja fast fahrlässig zurückhaltend, liebe Freundinnen und Freunde. Merkwürdig ist es auch, daß weder auf der Bonner Konferenz noch danach Euer alarmierender Befund in Partei und Fraktion eine Rolle gespielt hat. Und in der Tat, wenn man die von Euch inkriminierte Passage meiner Rede liest, wird man dort erstaunliche Unterschiede zu der von Euch gemachten Wiedergabe meiner Position feststellen. Es heißt da: "Der Krieg in Bosnien und noch viel mehr die Massaker in Ruanda machen eine aktive internationale Politik gegen den Völkermord unabweisbar. Vor allem Ruanda muß die internationale Staatengemeinschaft zum Handeln zwingen, denn manches spricht dafür, daß in Ruanda auch die knapper werdende Ressource Land bei einer rasch wachsenden Bevölkerung im Hintergrund als Motiv des Völkermordes gestanden hat. Wenn dem so ist, dann birgt die Verbindung von Ressourcenverknappung und sozialer Verelendung in Zukunft die Gefahr ähnlicher Völkermorde. Hier muß unsere Partei ihre bisherige Position ändern, denn meines Erachtens besteht bei der Gefahr eines Völkermordes eine Interventionspflicht der UN. Natürlich hat die friedliche Konfliktprävention unbedingten Vorrang. Und ebenso selbstverständlich muß der Fall definiert und rechtlich die Eingriffsbefugnisse der UN geregelt werden. Auf dem Hintergrund der bestehenden UN Konventionen und des internationalen Rechts ist dies nicht allzu schwer. (Die Fettstellung wurde nachträglich durch mich vorgenommen, damit dieser Text nicht wieder überlesen wird! J. F.) Darüber hinaus ist die Einrichtung einer ständigen UN-Kommission zur Prävention von Völkermord, besetzt mit unabhängigen internationalen Persönlichkeiten, die jährlich berichtet und die Gremien der UN berät, vor allem aber aktuell unterrichtet und im Ernstfall alarmiert. Ihre Berichte bieten die materielle Entscheidungsgrundlage für die Gremien der UN. Ähnliche Kommissionen sind auch auf der Ebene regionaler Untergliederungen der UN einzurichten.". Ich frage Euch, was kann man gegen diese Position eigentlich als Grüne und vor allem als Linke und gar als deutsche Linke haben? Nirgendwo wird hier von mir von einer umfassenden Interventionspflicht Deutschlands und schon gar nicht von einer umfassenden militärischen Interventionspflicht gesprochen! Selbst der "Duden" läßt einem da mehr Gerechtigkeit widerfahren, da er sich wenigstens exakt an die Reihenfolge hält. Unter "Intervention" lese ich da: "Vermittlung; diplomatische, wirtschaftliche, militärische Einmischung eines Staates in die Verhältnisse eines anderen". Ich staune ob Eures Vorwurfs, denn der Kampf gegen den Völkermord war und ist ein zentraler Bestandteil des Gründungskonsenses der UN. Und was ich hier angesprochen habe und Ihr massiv kritisiert, ist nichts weniger, als der Inhalt der "Konvention über die Verhütung und Bestrafung des Völkermordes" der Vereinten Nationen vom 9.12.1948.

Ich mag ja mittlerweile mit meiner Auffassung aus der Mode gekommen sein, aber die deutsche Geschichte zählt für mich nach wie vor als ein gewichtiges politisches Argument in der Gegenwart. Diese Konvention der Vereinten Nationen war eine direkte Antwort der internationalen Völkergemeinschaft auf die völkermörderische Barbarei der deutschen Nazis, eine unabweisbare Konsequenz aus deren Menschheitsverbrechen am europäischen Judentum und an den Sinti und Roma, eine Antwort auf Auschwitz also. Wie können Linke in Deutschland daraus heute einen politischen Vorwurf machen und ihn in der innerparteilichen Kontroverse erheben? In der Konvention gegen den Völkermord der UN - sie ist wirklich lesenswert - heißt es: "Nach Erwägung der Erklärung, die von der Generalversammlung der Vereinten Nationen in ihrer Resolution 96(I) vom 11. Dezember 1946 abgegeben wurde, daß der Völkermord ein Verbrechen gemäß internationalem Recht ist, das dem Geist und den Zielen der Vereinten Nationen zuwiderläuft und von der zivilsierten Welt verurteilt wird, In Anerkennung der Tatsache, daß der Völkermord der Menschheit in allen Zeiten der Geschichte große Verluste zugefügt hat, und In der Überzeugung, daß zur Befreiung der Menschheit von einer solch verabscheuungswürdigen Geißel internationale Zusammenarbeit erforderlich ist, sind die Vertragschließenden Parteien hiermit wie folgt übereingekommen: Art I Die Vertragschließenden Parteien bestätigen, daß Völkermord, ob im Frieden oder im Krieg begangen, ein Verbrechen gemäß internationalem Recht ist, zu dessen Verhütung (Hervorhebungen von mir, J. F.) und Bestrafung sie sich verpflichten."

Hier steht es also schwarz auf weiß: die Vereinten Nationen und ihre Mitgliedsstaaten haben sich vertraglich zur "Verhütung" von Völkermord "verpflichtet"! Führt das faktische Zitieren von UN-Konventionen neuerdings zu "offenen Briefen" in unser Partei, die sich bisher zurecht als die Wahrerin der Menschen- und BürgerInnenrechte in Deutschland verstanden hat? Wenn Ihr konsequent sein würdet, was Ihr aber Gott sei Dank nicht seid, dann müßtet Ihr ja angesichts des Textes der Konvention von der Bundesregierung eine Änderung dieser UN "Konvention zur Verhütung und Bestrafung von Völkermord" verlangen, und wenn diese nicht durchsetzbar ist, deren Kündigung durch die Bundesrepublik Deutschland, denn diese Konvention geht ja, so Eure entzückende Einsicht, weit über Rühe hinaus und birgt ein globales Einsatzrisiko der Bundeswehr. Eine solche grüne Forderung gäbe gewiß ein lautes nationales und internationales Hallo. Absurd, sagt Ihr jetzt? Richtig, völlig absurd, aber dies gilt angesichts der hier dargestellten Fakten vor allem für Eure abwegige Unterstellung eines angeblich "weltweiten Kampfauftrages der Bundeswehr", der sich aus der Verhütungspflicht der UN im Falle von Völkermord ergäbe! Ihr seht ja das eigentliche Risiko in der "begrüßenswert weiten Definition" von Völkermord, die Ihr einem klugen Rechtswörterbuch entnommen habt, und fragt deshalb: "Wenn jemand aus dieser begrüßenswert weiten Definition die Pflicht der UNO zur militärischen Intervention ableitet, in wie viele Kriege wird er sich gleichzeitig verwickeln?" Oh, Leute, Ihr argumentiert in diesem Brief, sicherlich ungewollt, allzuoft wie konservative Realpolitiker gegen die linken Idealisten und deren Illusionen von prinzipienorientierter Außenpolitik und Vereinten Nationen. In Artikel II der Konvention wird Völkermord wie folgt definiert: "Art.II In dieser Konvention bedeutet Völkermord eine der folgenden Handlungen, die in der Absicht begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören:
(a) Tötung von Mitgliedern der Gruppe;
(b) Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe;
(c) vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen;
(d) Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind;
(e) gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe." Völkermord liegt nach dieser Definition also immer dann vor, wenn ein "Krieg" nicht um Territorien oder Macht geführt wird, sondern wenn er gegen eine Gruppe von Menschen als solche geführt wird, das heißt wenn dieser "Krieg" ihre völlige oder teilweise Vernichtung und Auslöschung beabsichtigt und zum Inhalt hat. Ich verstehe nicht, wie man daraus die Gefahr und die Rechtfertigung weltweiter Bundeswehreinsätze herauskonstruieren kann. Wenn Ihr diesen Vorschlag genau bedenkt, dann werdet Ihr ihn sogar als sehr eng entdecken. Eine militärische Beteiligung Deutschlands am Golfkrieg wäre damit ausgeschlossen gewesen, ebenso Somalia, nicht aber Kambodscha.
Zudem erstaunt mich Eure Umkehrung der bisherigen linken Kritik an dieser Konvention, denn diese zielte bisher exakt in die Gegenrichtung, nämlich daß diese Konvention eben nicht weit und umfassend genug sei! Kritisiert wurde etwa, daß die Konvention gegen den Völkermord zwar die biologisch- physische Integrität von Gruppenangehörigen, nicht aber ihre kulturelle Identität schütze. So habe sich die Unzulänglichkeit der Völkermordkonvention - mit ihrer engen Definition - im Fall etwa der Ureinwohner Brasiliens erwiesen. Unsereins kann sich manchmal wirklich nur wundern...

2. Erschreckend finde ich Euren argumentativen Umgang mit dem Wiederauftauchen eines blutigen völkischen Faschismus und von Völkermord nach dem Ende des Kalten Krieges. Natürlich seht ihr das moralische Problem für eine demokratische Linke, die ihren universalistischen Grundwerten verpflichtet ist, aber um unbedingt an dem Dogma der jederzeitigen Gewaltfreiheit festhalten zu können, macht Ihr etwas aus meiner Sicht Unverzeihliches: Ihr versucht aus innenpolitischen und innerparteilichen Gründen das Problem auf schlimme Weise zu relativieren, seht im Hinweis auf die Massaker in Srebrenica und Ruanda lediglich eine instrumentelle Emotionalisierung ("Diese neue Formel zielt direkt auf Emotionalisierung," heißt der zentrale Vorwurf an mich in Eurem offenen Brief), definiert Srebrenica schließlich verdachtsweise zu einer faktischen Verschwörung des altbekannten US Imperialismus und seiner finsteren militaristischen Politik um, womit Euer liebstes Feindbild wieder stimmt und landet schließlich im blanken Zynismus des "man kann ja eh nichts machen" im Falle eines akuten Völkermordes.

Ich kann ja Eure Position durchaus verstehen, die einerseits am bestehenden bündnisgrünen Beschlußkanon festhalten will, ihn andererseits aber in Richtung einer deutschen Beteiligung an friedenserhaltenden Blauhelmeinsätzen vorsichtig zu öffnen versucht, auch wenn ich diese halbherzige und ausschließlich die innerparteiliche Mehrheitsfähigkeit im Auge behaltende Position nicht teile. Eure Begründung allerdings - und diese Unterscheidung bitte ich zu beachten -, die Ihr nunmehr in Eurem "offenen Brief" dafür gegeben habt, halte ich gerade als Linker für eine schlichte Katastrophe. Da dekliniert Ihr von Ruanda über Somalia, Südsudan, Kurdistan (wobei Ihr den erfolgreichen militärischen Schutz der amerikanischen Luftwaffe für die kurdische Bevölkerung im Norden Iraks, weil nicht in Euer Bild passend, schlicht wegfallen laßt), Ost-Timor, Brasilien, Afghanistan und Tibet die nach Eurer Meinung akuten Fälle von Völkermord durch, stellt fest daß man da aus moralischen Gründen überall eingreifen müßte, was aber "pragmatisch", wie Ihr das nennt, nicht geht, und kommt ergo zu einer für Linke echt sensationellen Schlußfolgerung: "Tatsache ist: Gegen kleine Verbrecher ist Intervention nicht nötig, gegen große nicht möglich. Aber selbst in mittleren Konfliktlagen gibt es absolut keine Garantie für einen militärischen Sieg." Seid mir nicht böse, aber dieser Satz ist, von Linken formuliert, ein echter Hammer: "Hoch die internationale Solidarität!" fällt mir da nur noch ein. Spanien 1936, Vietnam, Nicaragua, mit Gaby Gottwald in El Salvador und mit Christian Ströbele Geld für Waffen gesammelt, um nur einige Höhepunkte der internationalen (und keineswegs gewaltfreien!) Solidarität unserer Generation zu nennen - alles schon vergessen? Eure Auffassung dürfte sich nur schwer aus der Tradition einer internationalistischen demokratischen Linken begründen lassen. Ihr artikuliert vielmehr einen kruden Isolationismus, und in der Tat ähneln viele Eurer Argumente in dem "offenen Brief" an Positionen, die ich gerade noch vor drei Wochen in Washington gehört habe. Republikanische Kongreßabgeordnete, echte Isolationisten, haben fast identisch argumentiert, als sie die Balkanpolitik Präsident Clintons abgelehnt und eine amerikanische Beteiligung am Boden zur Sicherung eines möglichen Friedens in Bosnien ausgeschlossen haben.

Würdet Ihr diesen fatalen Satz angesichts des Friedens von Dayton heute so noch einmal schreiben? Egal, wie bitter und gefährlich dieser Friede immer auch sein mag, aber er bedeutet ein einstweiliges Ende des Mordens, des Vergewaltigens und des Vertreibens und die alleinige Alternative zu ihm heißt Krieg. Kann man also wirklich nichts machen? Und was ist denn aus der von Euch behaupteten militärischen Eskalationsspirale nach den Luftangriffen der NATO in Bosnien geworden? Kein Wort hört man mehr darüber von Euch. Heute schreibt Jürgen Trittin zu dem Frieden von Dayton:
"Die Vereinbarung ist ein echter Fortschritt für die Menschen im ganzen ehemaligen Jugoslawien. Nach vier Jahren des Gemetzels, nach 250.000 Toten und Millionen von Vertriebenen besteht jetzt die Chance auf Frieden. Die Bevölkerung will den Frieden, das hat die Kriegsherren zum Einlenken gebracht. Hierzu hat insbesondere das Embargo gegen Serbien erheblich beigetragen. Das Abkommen ist so ein später Erfolg der - häufig leider nur halbherzig und einseitig durchgeführten - UN-Sanktionen." (Presseerklärung Nr. 132/95 vom 22.11.95 des Bundesvorstandes Bündnis 90/Die Grünen)
Ja, ja, Jürgen, die Realität und diese verdammten Tatsachen sind eine schwierige Angelegenheit, ich weiß. Gewiß hat der Wirtschaftsboykott für den Friedensvertrag von Dayton eine große Rolle gespielt, aber gewiß noch mehr die Entscheidung der USA, sich endlich vor Ort massiv zu engagieren und gleichzeitig einen Friedensschluß nachgerade zu erzwingen. Muß man denn alles durch die innerparteiliche Positionsbrille verzerrt sehen, und kann man diese Tatsachen nicht einfach mal aussprechen, auch wenn sie nicht ins eigene Konzept passen? Ich stimme denen sogar zu, die meinen, daß diese Entwicklung letztendlich eine Niederlage für eine UN gestützte Politik darstellt, aber kann man wegen der falschen Adresse die Unterstützung für die Umsetzung des Friedensvertrages verweigern? Es ist doch nicht meine Kopfgeburt, daß wir uns auch als gewaltfreie Partei erneut mit dem furchtbaren Verbrechen des Völkermordes in der internationalen Politik auseinanderzusetzen haben. Ludger Volmer war der Verfasser der Mehrheitsresolution des Bonner Sonderparteitages vom 9. Oktober 1993 und darin wird wortwörtlich vom Wiederauftauchen eines "faschistischen Völkermordes" im früheren Jugoslawien und vom "Genozid" an den bosnischen Muslimen gesprochen:
"Die ehemals kommunistischen Machthaber konnten sich in Belgrad mit nationalreaktionären Parolen und einer aggressiven Kriegspolitik zuerst gegenüber Kroatien und dann auch gegenüber Bosnien-Herzegowina an der Macht halten. Der Krieg, den sie und ihre Statthalter in Bosnien gegen die bosnischen Muslime führen, hat sich zum Genozid (alle Hervorhebungen sind von mir, J. F.) ausgeweitet. Systematische Menschenrechtsverletzungen wie barbarische Massenmorde an Zivilisten, Konzentrationslager, Massenvergewaltigungen, Vertreibungen und Staatsterror sind Zeichen eines faschistischen Völkermordes, wie er nach dem Ende des deutschen Nationalsozialismus nicht mehr für möglich gehalten wurde. Aber auch in der kroatischen Politik werden faschistische Tendenzen immer stärker. Die offenkundigen Absprachen zwischen Kroatien und Serbien zur Vernichtung der muslimischen Volksgruppe in Bosnien-Herzegowina machen dies in schrecklicher Weise deutlich."
So die Lageanalyse unserer Partei auf dem damaligen Sonderparteitag, verfaßt von Ludger Volmer, angenommen mit einer überwältigenden Mehrheit der Delegierten. Ich kann dieser Analyse kaum widersprechen. Es bleibt allerdings die Frage, warum dann eine Position, die sich nicht nur antimilitaristisch sondern auch links und antifaschistisch nennt, aus dieser Erkenntnis nicht die notwendigen Konsequenzen zieht und ein entsprechendes Eingreifen der Vereinten Nationen entsprechend ihrer eigenen "Konvention zur Verhütung und Bestrafung von Völkermord" und der damit eingegangenen Selbstverpflichtung fordert, sondern statt dessen vor allem die Gefahr der "Remilitarisierung" der deutschen Außenpolitik thematisiert.

Liest man allerdings Euren jüngsten offenen Brief, so war die Bonner Entschließung von 1993 ja tatsächlich noch ein Dokument des guten alten linken Internationalismus im Vergleich zu dem, was Ihr heute aufgeschrieben habt. Wie kann man als Linke, die zurecht immer das merkwürdig abwesende Geschichtsbewußtsein der Rechten hierzulande kritisiert haben, in diesem Monat, in dem sich am 20. November zum fünfzigsten Mal die Eröffnung des Nürnberger Tribunals gegen die nationalsozialistischen Hauptkriegsverbrecher jährt, einen "offenen Brief" mit der Überschrift "Wohin führt die Forderung nach einer militärischen Interventionspflicht gegen Völkermord?" veröffentlichen und dabei Nürnberg und den Weg dorthin nicht ein einziges Mal erwähnen? In Nürnberg ging es zum ersten Mal um "Verbrechen gegen die Menschlichkeit", um Völkermord also und seine Bestrafung. Das hat doch unmittelbar mit unserer Kontroverse zu tun. Worin liegt denn der Unterschied zwischen den Grundsätzen von Nürnberg und unserer Haltung gegenüber dem Wiedererstehen von Völkermord in der Welt nach dem Ende des Kalten Krieges? Darf es da überhaupt einen Unterschied geben und wenn ja, wie begründet dieser sich? Wäre da, um nur ganz bescheiden zu fordern, nicht wenigstens ein Satz der Begründung in Eurer Kritik notwendig gewesen? Was zum Teufel hat Euch eigentlich dazu gebracht, ausgerechnet den früheren amerikanischen US-Präsidenten Woodrow Wilson zum ideologischen Hauptfeind Eurer historisierenden Attacke auszugucken, ihn als den Erfinder des ideologisch menschenrechtsgestützten US Imperialismus mit Henry Kissinger, dem Meisterdenker einer interessenorientierten Machtpolitik und Fan der reaktionären Heilligen Allianz von Metternich, preußischem König und Zar, zu denunzieren? Oh, es gibt ganz offensichtlich keine Ordnung mehr in der Welt nach dem Ende des Kalten Krieges, denn welch ein Bündnis beschert Ihr damit der staunenden Öffentlichkeit: die Linken bei den Grünen gemeinsam mit Henry Kissinger gegen Woodrow Wilson, den Vater einer prinzipienorientierten transnationalen Außenpolitik, kollektiver Sicherheitssysteme und des Völkerbundes!

Aber bitte, man lernt ja nie aus, und so habe ich, angeregt durch die Lesefrüchte aus Eurem Brief, in Henry Kissingers letztem Buch Vernunft der Nationen über Wilson nachgelesen und erstaunliches gefunden. Der Mann hat 1917/18 ja vielesentwickelt, was mittlerweile zu dem ehernen Bestandteil grüner Friedenspolitik heute gehört, und wird dementsprechend von Kissinger attackiert. Die Lektüre rentiert sich wirklich:
"Wilson hingegen blieb zeit seines Lebens der festen Überzeugung, daß die Einführung der Demokratie und die Durchsetzung des Selbstbestimmungsrechts der Völker jegliche Konfliktsituation entschärfen und ihrer zentralen Motive berauben würde. Da er für die Länder der Welt kein höheres Ziel erblicken konnte als die kollektive Sicherheit, setzte er ohne zu zögern eine allgemeine Bereitschaft voraus, sich gegen Aggression, Ungerechtigkeit, auch gegen übertriebenen Egoismus zusammenschließen. Doch die Bereitschaft allein, so Wilson, reiche nicht aus. Mindestens ebenso wichtig sei es, Rechtsgleichheit unter den einzelnen Staaten zu schaffen. Nur so sei der Frieden zwischen Nationen unterschiedlicher Macht und Stärke in einem System kollektiver Sicherheit aufrechtzuerhalten. ... Wilson schlug also eine Weltordnung vor, in der Widerstand gegen Aggression auf moralischen und nicht auf geopolitischen Erwägungen basieren sollte. Entscheidend war der Rechts- oder Unrechtscharakter einer Handlung, nicht der Grad der zugrundeliegenden Bedrohung."(S. 243)

Interessant dabei ist, daß wenn es zu einer Entmachtung der Nationalstaaten zugunsten internationaler Konfliktregelungsmechanismen kommen wird, diese dann genau entsprechend dieser Verrechtlichung verfahren wird, und daß gerade die Bündnisgrünen dies in der außenpolitischen Debatte und ihrer Orientierung an der Vision einer "Weltinnenpolitik" immer besonders betonten. Kissinger hingegen ist ein Vertreter der alten machtpolitischen Schule traditioneller europäischer Interessenpolitik. Aber selbst Kissinger führt weiter unten sogar noch an, daß Woodrow Wilson eben nicht zuerst und vor allem bei der Regelung internationaler Konflikte und Rechtsverstöße einzelner Mächte an militärische Mittel dachte, sondern - welch ein argumentativer Witz, wenn man den Inhalt Eures Antrages für die kommende Bundesversammlung in Bremen kennt! - vor allem den Wirtschaftsboykott:
"Schon das Bowman-Memorandum hatte hierzu bemerkt: ,Zur Erhaltung der Disziplin gebe es eine Alternative zum Kriege, nämlich den Boykott. Alle Handlungsmöglichkeiten, einschließlich der Post- und Kabelverbindungen, könnten einem Staate unterbunden werden, der sich einer Übeltat schuldig gemacht habe.`"(S. 252)

Das klingt doch fast wie eine aktuelle Resolution unserer Parteilinken zur Friedens- und Sicherheitspolitik. Ihr hingegen kritisiert, gemeinsam mit Henry Kissinger, Woodrow Wilson als den Erfinder eines ideologisch auf die Menschenrechte gestützten US-Interventionismus. Gut, all das wären sicher hochinteressante Fragen für ein historisches Seminar, aber Ihr kommt jedoch zu höchst aktuellen politischen Schlußfolgerungen, die nicht unwidersprochen bleiben dürfen. Wilson wird bei Euch zu meinem interventionistischen Stichwortgeber, den Henry Kissinger laut Eurem Brief schließlich entlarvt hat: "Welch Paradox, eine Neutralitätsphilosophie zu ersinnen, die eine Verwicklung in Kriege unabwendbar machte!" Und fast jubilierend fügt Ihr hinzu: "Und welch verblüffende Ähnlichkeit mit den Denkfiguren der heutigen grünen InterventionsfreundInnen." Da also wollt Ihr hin. Nach dieser Vorbereitung des historisch- politischen Gefechtsfeldes erfolgt Euer eigentlicher Schlag, nämlich meine definitive Enttarnung als Nato-Neoimperialist, angesichts dessen sich der General Naumann nachgerade als ein Waisenknabe in Uniform erweist: "Steht die subtile Befürwortung der NATO, die hinter der Interventionsforderung steht, im Zusammenhang mit dem weltwirtschaftlichen Selbstbehauptungsinteresse Westeuropas und Deutschlands, wie es Joschka in seinem von der Presse sogenannten Wirtschaftspapier schreibt?"

Ein Kompliment muß ich Euch machen: Ihr laßt wirklich keine finstere Absicht aus, und sei sie noch so klein und auch noch so mühselig verschwörungstheoretisch konstruiert. Da wird aus der Diskussion über die notwendige Erneuerung des Sozialstaates unter den Bedingungen des Globalismus - wie in Zukunft finanzieren, wie produzieren, wie verteilen? - ein quasi imperialistisches "Selbstbehauptungsinteresse" destilliert, das unter dem ideologischen Banner des "Kampfes gegen den Völkermord" weltweit deutsche Interessen mit der Bundeswehr durchkämpfen lassen will. Das ist, so steht es tatsächlich in Eurem Papier, die politische Strategie des Fraktionssprechers von Bündnis 90/Die Grünen im deutschen Bundestag. Oh, Leute, glaubt Ihr diesen konstruierten Schmarrn denn wirklich?

Aber es kommt ja noch schlimmer. Ich wiederhole es nochmals, bevor ich fortfahre, und das hat seinen Grund: Ich kann eine Ablehnung von Militäreinsätzen sehr gut verstehen, wenn auch nach Srebrenica nicht mehr teilen, Eure Begründung aber, vor allen deren historisierende Teile, entsetzen mich. Ich finde, Ihr seid hier in eine völlig falsche Spur geraten, die Ihr schleunigst wieder verlassen solltet. Ihr schreibt, und wieder geht es zentral gegen Eure negative Obsession USA, folgendes: "Nachdem Roosevelt sie [die Monroedoktrin] bereits als Folie zur Politik der Einflußsphärensicherung genommen hatte, wurde das Ganze noch mit Wilsons Idealen überwölbt, um so die amerikanischen Interventionen seit den zwanziger Jahren bis zum Militärputsch in Chile, der Invasion auf Grenada, dem Überfall auf Panama und der Blockade von Kuba zu legitimieren. Es ging weiter im Vietnamkrieg, wo angeblich der freie Westen verteidigt wurde und endete bisher beim Wüstenkrieg am Golf. Immer ging es angeblich um die Menschen- und Freiheitsrechte. Uns interessiert die Frage, wie denn verhindert werden kann, daß ein grüner, auch militärisch ausgerichteter Menschenrechtsfundamentalismus als Mäntelchen für andere, reale Interessen genutzt wird."

Bei Eurer Kurzgeschichte des US-Interventionismus fällt sofort eine große, für die hier kontrovers gestellte Frage der Verhütung von Völkermord aber zentrale historische Lücke auf, die Ihr übrigens nirgendwo in Eurem offenen Brief schließt. Ihr erwähnt mit keinem Wort den Ersten und den Zweiten Weltkrieg, mit keinem Wort den Holocaust. Nirgendwo! Geschweige, daß Ihr auch nur in Ansätzen versucht, Eure Argumente daran zu messen. Wie können wir aber über Völkermord, die Interventionspflicht der UN gegen Völkermord, die Rolle der zivilen Prävention von Völkermord und im akuten Fall auch seiner militärischen Bekämpfung und die Haltung unserer Partei dazu im Jahre 1995 ernsthaft erörtern, ohne auf den Nationalsozialismus, die deutsche Geschichte und die Rolle des ach so finsteren US Imperialismus bei der Befreiung der Welt vom Nationalsozialismus einzugehen? Was bitte, und diese Frage ist sehr ernst gemeint, ist an dem von Euch niedergeschriebenen Geschichtsbild - und, wohlgemerkt, dabei geht es nicht um Vergangenheit sondern vielmehr um die Legitimation einer aktuellen politischen Entscheidung durch diese Version von Vergangenheit -, was ist also an diesem Geschichtsbild eigentlich noch und überhaupt links? Unser früherer Parteifreund und heute bekennender Nationalpazifist Alfred Mechtersheimer sieht die Dinge in seinem jüngsten Buch "Friedensmacht Deutschland. Für einen neuen Patriotismus" fast identisch, und das muß Euch doch als demokratische Linke nachdrücklich alarmieren.

3. Laßt mich hier den eigentlich wesentlichen Widerspruch zwischen uns ansprechen, der uns trennt: Wir definieren uns alle als demokratische Linke. Nur was ist nach dem Ende des Kalten Krieges in der Außenpolitik eigentlich links? Die Linke ist den universalistischen Grundwerten von Gerechtigkeit, Freiheit, gleichen Lebenschancen und Frieden verpflichtet. Die demokratische Linke will eine gewaltfreie und gerechte Welt, und sie bekämpft deshalb Ausbeutung, Unterdrückung und die Herrschaft des Menschen über den Menschen als die anhaltende Ursache von Gewalt auf dieser Welt. Der Nationalismus ist eine der gefährlichsten gewalttätigen Herrschaftsformen und deshalb ist die Linke nicht nur in ihren Grundwerten universalistisch, sondern in ihrer Politik immer auch internationalistisch gewesen. Dies gilt auch und gerade für eine Politik des Machttransfers von den Nationalstaaten hin zu trans- und internationalen Konfliktregelungsinstitutionen wie die UN.

Eine Politik, die Gewalt überwinden will, kann nicht auf Gewalt setzen. Gewaltfreiheit gehört daher zu diesen universalistischen Grundwerten der Linken. Andererseits werden wir den Opfern mörderischer Gewalt aus demselben Grund unsere Hilfe zum Überleben nicht versagen dürfen, und das heißt eben auch im äußersten Falle militärische Hilfe. Dies erzwingt ein weiterer linker Grundwert, die Solidarität. Aus diesem Widerspruch wird linke Politik niemals herauskommen, denn er ist ihr wesentlich und muß in jeder konkreten historischen Situation immer neu beantwortet werden. Eines allerdings war für die demokratische Linke immer klar: Wenn Hilfe zum Überleben notwendig und möglich ist, muß sie geleistet werden. Dann hat der Grundwert der Solidarität Vorrang. Links ist die Solidarität mit den Schwachen, den Wehrlosen, den Opfern. Wer diesen Grundwert aufgibt, gibt tatsächlich die Grundwerte einer universalistischen und internationalistischen Linken auf und landet schließlich beim Isolationismus. Ich möchte in diesem Zusammenhang auf Eure Analyse der Massenmorde von Srebrenica eingehen, wo Ihr erneut eine hinterhältige Verschwörung von US Imperialismus, Serben und Kroaten zu Lasten der bosnischen Muslime nahelegt, ohne Euch aber wirklich festzulegen. Zweck des ganzen wäre der Erfolg des Holbrooke Planes, beruhend auf dem Gebietsaustausch zwischen Srebrenica und der Kraijna, gewesen, der Clinton letztendlich die Wiederwahl sichern soll. Ihr müßt wissen, welche Behauptungen Ihr damit in die politische Kontroverse einführt!

Folgt man dem Ton und den Anmutungen Eures Briefes, so scheint Ihr in den USA ja fast wieder ein "Reich des Bösen" zu sehen. Aber Ihr seid zugleich auch von erhabener Vagheit und Vorsicht, wenn ihr schreibt: "Auch diese Überlegungen werden uns nicht dazu verleiten, nun eine harte Behauptung aufzustellen. Denn auch dies wird nur ein Teil der Wahrheit sein." Eben, eben. Freilich habt Ihr sehr sorgfältig den Euch passenden Teil der vielen "möglichen Wahrheiten" herausgesucht, ohne weiter die Konsequenzen der Massenmorde von Srebrenica durch die bosnischen Serben und deren Folgen für die Zukunft UN gestützter Konfliktprävention und Überlebenshilfe zu diskutieren. Und mit dieser von Euch angenommenen "Teilwahrheit" macht Ihr in Eurem offenen Brief ganz schön Politik. Besonders seriös ist diese Methode nicht gerade zu nennen. Wie die abgebrühtesten außenpolitischen Machtpolitiker konstatiert Ihr kühl, daß "die Schutzzonen von Beginn an nicht als militärische Verteidigungsräume konzipiert waren." Ja, liebe Leute, und was folgt denn für Euch aus der Tatsache, daß der UN Generalsekretär 34.000 Blauhelme für die bosnischen Schutzzonen beim Sicherheitsrat beantragt und nur völlig unzureichende 7.400 bekommen hat? Hätten wir dann nicht mehr zum Schutz der Menschen fordern müssen und lag nicht genau hierin nicht unser gemeinsames Versagen, nämlich dies unterlassen zu haben? Wir haben unter anderem für die Aufrechterhaltung der UN Schutzzonen in der Öffentlichkeit und im Bundestag argumentiert, wissend um den völlig unzureichenden militärischen Schutz der Menschen in Srebrenica und anderswo. Kein noch so leiser Gedanke an die eigene Verantwortung für die damalige gemeinsame Position? Mir ging das anders, denn für mich war diese selbstkritische Erkenntnis nach den Massenmorden in der UN Schutzzone Srebrenica der Anlaß zur Veränderung meiner Haltung gegen eine verstärkte UN Intervention in Jugoslawien. Die Vorbereitung der Eroberung von Srebrenica vollzogen sich doch in aller Öffentlichkeit. Unsere Freundin Marie Luise Beck hat in Fraktion und Öffentlichkeit immer wieder und über Wochen hinweg darauf hingewiesen, die Medien waren voll davon und die bosnische Regierung hat noch kurz vor der Eroberung in einem dramatischen Appell auf die Gefahr der Massenmorde an Wehrlosen hingewiesen. Waren diese Massenmorde verhinderbar? Ich meine ja. Und diese Erkenntnis ist für mich als Linken bitter, denn wenn den durch Massenmord bedrohten Menschen geholfen werden kann, moralisch, politisch, militärisch (ich erspare mir hier jetzt die erneute Aufzählung von Vietnam bis El Salvador), dann verpflichtet der linke Grundwert der Solidarität zur Hilfe zum Überleben. Die einzige "linke" Schlußfolgerung und Kritik aus diesem Massaker in der UN Schutzzone Srebrenica kann doch nur sein, die UN hätten, gemäß ihrer eingegangenen Verpflichtung, militärisch wirksam eingreifen und die Menschen vor dem Massenmord und den Todesmärschen schützen müssen. Und eine "linke" Kritik (und ich muß hier immer wieder auch von Selbstkritik an meiner eigenen Position von damals sprechen) an den UN und den USA kann doch nur sein, daß sie erst nach und nicht bereits vor Srebrenica zu härteren militärischen Mitteln gegriffen haben!

4. Zu danken habe ich Euch für die Klarstellung, daß die gegenwärtige Kontroverse nichts mit einer möglichen Regierungsbeteiligung der Bündnisgrünen 1998 zu tun hat. Ihr schreibt: "Eine gründliche Kurskorrektur, um mit der SPD koalitionsfähig zu werden, halten wir nicht für notwendig." Dies ist uneingeschränkt richtig. Und Ludger Volmer hatte dies zuvor ja bereits schon in der taz vom 12./13. August unter der Überschrift "Greif zur Waffe, fahr nach Sarajewo!" noch ausführlicher dargestellt und begründet:
"Eine überfällige Debatte zu provozieren, darum kann es nicht gehen. Die ist längst im Gange, wurde nur in der Öffentlichkeit noch nicht ausreichend registriert. Sie dreht sich um die Frage, unter welchen Umständen die grundsätzlich schon bestehende Befürwortung von friedenserhaltenden Blauhelm-Missionen (Hervorhebungen von mir, J. F.) eine deutsche Beteiligung möglich und nötig macht. Und um die Frage, wie wir praktisch mit dem Problem umgehen, daß wir die Nato einerseits für historisch überholt halten, aber selbst per Beschluß einer rot- grünen Koalition nicht abschaffen können und ein einseitiger Austritt aus verschiedenen Gründen nicht ratsam ist. Hier zeichnen sich neue pragmatische Perspektiven auf der Basis der bestehenden Grundsätze ab. Mit Sicherheit wird die Außenpolitik kein Punkt sein, an dem eine rot-grüne Koalition in Bonn scheitern könnte. Das ist jetzt schon absehbar. Deshalb muß kein grünes Tabu gebrochen werden."

Und ganz aktuell lese ich im Spiegel von heute Ludgers letzte Äußerung zu diesem Thema, die ich ebenfalls sehr bemerkenswert finde:
"Ich sehe keinen Ballast, den wir abwerfen müßten. Ich halte es für legitim, zunächst mal mit alternativen außenpolitischen Perspektiven in Koalitionsverhandlungen zu gehen. Dann sehen wir weiter."

Völker hört die Signale, kann ich dazu nur sagen. "Zunächst mal" und "dann sehen wir weiter" klingt ja sehr hoffnungsvoll und entschlossen! Wie wäre es denn zur Abwechslung mal Eurerseits mit einer "Aktion Klartext" für die Partei, liebe Leute. Wer die Position der SPD zur Außen- und Sicherheitspolitik kennt, ihr Bekenntnis zu Bundeswehr, Vaterlandsverteidigung, Rüstungsproduktion, Nato, Blauhelmen etc., der muß endlich einmal seinen eigenen linken Anhängern in unserer Partei sagen, daß dies im Ernstfall einer Regierungsbeteiligung Eurerseits auf eine "Strategie des kalkulierten Umfalls" hinauslaufen wird und muß. Gerade diejenigen unter Euch, die bereits über Regierungserfahrung verfügen, wissen um diese fatale Konsequenz Eurer Position nur zu gut!

5. Ihr verlangt "von den AnhängerInnen der Interventionspflicht möglichst bald nachvollziehbar zu klären, wohin die Reise geht." Ich will erneut eine Antwort versuchen, die Ihr unschwer allerdings schon meiner Bonner Rede hättet entnehmen können: Neben all den Opfern, den Verwüstungen und dem menschlichen Leid droht der Bosnienkrieg auch zu einer Zäsur in der Entwicklung Europas und der Vereinten Nationen nach dem Ende des Kalten Krieges zu werden. Die Europäische Union und die wichtigsten westlichen Staaten Europas waren unfähig, den Bosnienkrieg zu verhindern, ja sie trugen durch ihr Verhalten noch wesentlich zu seiner Eskalation bei. Europa gab es seit dem beginnenden Zerfall Jugoslawiens eigentlich gar nicht mehr, sondern es entstanden erneut die historischen und machtpolitischen Rivalitäten der europäischen Mächte, das Denken von 1914 statt von 1991: Frankreich und Großbritannien als serbische Garantiemächte, Deutschland und Österreich auf kroatischer Seite. Statt Kooperation und einer einheitlichen Jugoslawienpolitik herrschten in der EU Mißtrauen und uralte Machtkonkurrenzen. Heraus kam die fatale Anerkennungspolitik, die die Sezession nicht dämpfte und zivilisierte, sondern den Krieg erst recht anheizte.

Die UN sollte den Krieg begrenzen und zum Stillstand bringen, das Überleben vor allem der bosnischen Muslime sichern und humanitäre Hilfe möglich machen. Die Truppen der UN in Bosnien waren dazu viel zu schwach, schlecht ausgerüstet und blieben mit ihrem "peace keeping" Auftrag zwischen den heißen Fronten des Krieges mehr oder weniger hilflos hängen. Der Sicherheitsrat gab der UN zwar die Beschlüsse, niemals aber die ausreichenden Mittel zu deren Umsetzung. Höhepunkt dieser Hilflosigkeit war die Geiselnahme von hunderten von Blauhelmen und die Massenmorde nach der Eroberung der UN Schutzzone Srebrenica durch die bosnischen Serben. All dies ist heute bereits traurige Geschichte. Nicht Geschichte hingegen sind die fatalen Folgen dieses Krieges, nämlich die Schwächung der UN und die Stärkung der Nationalstaaten und ihrer Militärbündnisse als Subjekte der internationalen Politik in der Welt des Globalismus. Exakt an dieser Wegscheide steht heute auch die deutsche Politik, und je nachdem, welche Politik sich durchsetzen wird, wird dies eine UN gestützte und auf trans- und internationale Konfliktregelung ausgelegte deutsche Sicherheits- und Außenpolitik heißen, wie wir sie anstreben müssen, oder eine national gestützte, die zwar in NATO und UN eingebunden ist, den nationalen Faktor militärischer Stärke aber als unbedingt vorrangig ansehen wird. Die dritte Variante "Deutschland als Wehrdienstverweigerer" ist keine realisierbare außen- und sicherheitspolitische Option für die zukünftige deutsche Politik, sondern wird die Bündnisgrünen vielmehr auf der Ebene der Protestpartei festhalten und von der außen- und sicherheitspolitischen Gestaltung der deutschen Politik fernhalten. Und dies gilt nicht nur abstrakt, sondern bezogen auf die Vereinten Nationen hieße dies ganz konkret, daß Deutschland seinen Einfluß zur Stärkung der UN eben nicht zum tragen bringen könnte. Ich hielte dies für einen fatalen, um nicht zu sagen historischen Fehler.

Die Politik der Bundesregierung setzt nun genau auf die zweite, die nationale Variante:
+ Die Bundesregierung (und noch viel mehr die militärische Führung in ihrer Strategieplanung) definiert nationale Ziele, die u.U. auch mit militärischer Macht umgesetzt werden sollen;
+ die Bundesregierung will eine global einsatzfähige Streitmacht zur Wahrung und Sicherstellung nationaler Interessen; + die Bundesregierung will Umfang und Struktur der Bundeswehr (Wehrpflicht) aufrechterhalten;
+ die Bundesregierung will Kriseninterventionskräfte, die hochmobil und schnell einsatz- und global verlegefähig sei sollen (Fähigkeit zu vollen Beteiligung an Einsätzen wie dem Golfkrieg);
+ die Bundesregierung strebt strategisch eine deutsche Beteiligung am französischen Nuklearpotential an, auch wenn sie dies offen noch nicht zugibt und durch den Atomwaffensperrvertrag zur Vorsicht gezwungen ist. Die "linke" Alternative muß demnach auf folgende Schwerpunkte in der deutschen Sicherheits- und Außenpolitik setzen:
+ Stärkung der transnationalen Integration statt Fortentwicklung der traditionellen Militärbündnisse;
+ Stärkung ziviler Konfliktvermeidung und -verhütung als Vorrang deutscher Sicherheits- und Außenpolitik;
+ Entmachtung der Nationalstaaten zugunsten transnationaler und internationaler Sicherheitsinsitutionen;
+ zivile und militärische Stärkung der UN;
+ Beschränkung der deutschen Beteiligung out of area auf UN peace keeping. Dazu werden bestimmte Bundeswehrkontigente ausgebildet und der UN zur Verfügung gestellt. Nur im Falle der akuten Gefahr oder gar des Eintritts des Falles von Völkermord beteiligt sich Deutschland auch an peace enforcement nach Kapitel 7 UN Charta durch die den UN zur Verfügung gestellten Einheiten;
+ Einrichtung einer ständigen internationalen Kommission zur Verhütung von Völkermord;
+ Verzicht auf globale Interventionsfähigkeit Deutschlands und damit auch auf die entsprechende Umrüstung der Bundeswehr;
+ Verkleinerung der Bundeswehr, Abschaffung der Wehrpflicht und Umstrukturierung in eine Freiwilligenarmee; + weitgehende Einstellung von Rüstungsproduktion und Verbot von Rüstungsexporten
+ Verzicht auf jegliche deutsche Nuklearteilhabe und Stärkung einer Politik der nuklearen Abrüstung.

So, liebe Kontrahenten, nun habt Ihr die gewünschte Antwort, wohin meiner Meinung nach unsere "gemeinsame Reise" als Bündnisgrüne gehen sollte und, da bin ich mir sicher, über kurz oder lang auch gehen wird. Die immer wiederholte Unterstellung, wenn Deutschland sich gegen akute Völkermordgefahr an Maßnahmen der Friedenserzwingung der UN beteiligen würde, daß dann ein riesiger Militärapparat vorgehalten werden müsse, ist eben so unsinnig wie die Unterstellung, dies hieße eine Legitimierung von Militär und Krieg durch die Bündnisgrünen. Das wißt Ihr. Eine bündnisgrüne Partei, die diese Politik betriebe, würde weder ihre gewaltfreien Grundsätze verraten, noch würde sie sich an einer Politik der "Remilitarisierung" und "Renationalisierung" beteiligen. Wohl aber würde den Konservativen dadurch eine klar unterscheidbare friedens- und menschenrechtspolitische Alternative entgegengesetzt, die den Kampf um die demokratische Mehrheit in unserem Land gewinnen kann. Und darauf wird es letztendlich auch ankommen, denn wenn die konservative Politik das Mandat der Mehrheit behält und in den kommenden Jahren die Weichen der deutschen Sicherheits- und Außenpolitik stellen wird, dann werden wir zwar laut dagegen protestieren, aber wie bei der Wiederbewaffnung in den fünfziger Jahren und bei der faktischen Abschaffung des Grundrechts auf Asyl in den Neunziger werden wir dann letztendlich verlieren. Dies sollten wir verhindern. Mit Ausnahme der Friedenserzwingung nach Kapitel 7 UN Charta könntet Ihr eigentlich, wenn Ihr Euch nur öffentlich und vor Euren Anhängern getrauen würdet, allen anderen Punkten ja zustimmen. Das sagt Ihr allerdings nur im trauten Gespräch. Öffentlich hingegen dröhnt laut Eure pazifistische Rhetorik wider den Verrat: "Wir bleiben dabei: Bündnis 90/Die Grünen sind eine gewaltfreie und das heißt auch strikt antimilitaristische Partei, die den Einsatz von Militär strikt ablehnt." Gewiß doch, aber der Kern Eures Antrages ist das genaue Gegenteil Eurer pazifistischen Rhetorik, denn es geht auch bei Euch tatsächlich um einen Beschluß, der Ja sagt zu einem Militäreinsatz.

Es ist hoch anerkennenswert, wenn sich ein Teil von Euch im Antrag L. Volmer u.a. für die Aufstellung einer "Einheit für friedensbewahrende Einsätze der UNO (Blauhelme)" ausspricht, aber das wird eine Militäreinheit sein! Und auch Ihr werdet das Wunder der teilweisen Schwangerschaft nicht bewerkstelligen, glaubt es mir. Ein bißchen schwanger ging noch nie! Und deshalb ist es nachgerade albern und nicht von dieser Welt, allein des innerparteilichen Friedens und des Fortbestands des Dogmas vom Nein zu allem Militär, Soldaten nicht mehr Soldaten zu nennen und militärische Einheiten unter der Adresse von Auswärtigem Amt und Zoll firmieren zu lassen. Das wird es niemals geben, und das wißt Ihr auch. Von der Militarisierung der Außenpolitik zur Militarisierung des Auswärtigen Amtes? Es geht Euch um ein Ja zu Militäreinheiten, also sagt dies doch auch so dem Parteitag.

6. Zum Schluß darf ein letzter Vorwurf nicht unwidersprochen bleiben. Ihr schreibt: "Ganz problematisch aber wird es, wenn auf dem Perspektiv- Kongreß vor breiter Öffentlichkeit erklärt wird, daß eine wie geartete Beschlußfassung auf dem Bremer Parteitag auf jeden Fall nur ein Zwischenschritt sei, der im weiteren Prozeß in die Richtung größeren militärischen Engagements zu überwinden sei. Damit werden innerparteiliche Übereinkünfte aufgekündigt." Nun, Ihr täuscht Euch auch hier ein letztes Mal. Denn was habe ich wirklich geschrieben und gesagt? Lest nach: "Die Bündnisgrünen wollen mit ihrer Friedenspolitik Deutschland eine besonders aktive Rolle zuweisen. Voraussetzung dafür wird aber die Akzeptanz und die Bereitschaft der Partner Deutschlands sein, diese Politik mitzutragen, denn eine europäische Friedenspolitik bedarf der gemeinsamen Anstrengung und wird es niemals auf nationalstaatlicher Grundlage allein geben können. Allein dies wird uns in nicht allzu ferner Zukunft zu Kompromissen mit der Realität zwingen, die die meisten in der Partei heute noch mit Vehemenz ablehnen. Dennoch ist dieser Weg unabweisbar und vorgezeichnet, weil anders eine bündnisgrüne Friedenspolitik in gestaltender Absicht schlicht nicht möglich sein wird." Nichts, gar nichts wird hier von mir aufgekündigt! Ich weise Euch lediglich auf die kommenden Realitäten hin. Wo Ihr das Thema allerdings nun einmal angesprochen habt, müßt Ihr mir schon den Hinweis erlauben, daß ich die meisten von Euch und auch unsere Partei nicht erst seit vorgestern kenne. Wie war das denn in den achtziger Jahren im Kampf um die Frage "Systemopposition" und "Reformpartei" und um Rot-Grün, und wo standet Ihr da? Was mußten wir Realos Prügel einstecken, Verratsvorwürfe, "Sozialdemokraten bei den Grünen", "Anpassung an den Mainstream", "Aufgabe authentischer grüner Positionen", ja sogar, daß unsereins die "Zerstörung der Partei" betriebe. Schwamm drüber, denn heute sind fast alle Bündnisgrüne inklusive Ihr selbst für die Reformpartei und für Rot- Grün. In Nordrhein-Westfalen sind die Bündnsigrünen sogar Regierungspartei, und in der vereinigten Republik sind wir sogar zur dritten politischen Kraft geworden.

Ich habe damals meine persönliche Überzeugung und auch meine politische Strategie niemals nach den mutmaßlichen Mehrheiten in der Partei ausgerichtet, sondern immer nach meinen Grundwerten und der politischen Wirklichkeit. Deshalb war ich in den dreizehn Jahren, die ich nunmehr unserer Partei angehöre, eigentlich fast immer in der Minderheit auf Bundesebene, aber Ihr seht, weder die Partei noch ich haben daran Schaden genommen. Never change a winnig team. So wird es also auch in Zukunft bleiben. Mut zur Minderheit macht einen Linken aus, Leute, und als solchen begreife ich mich nunmal. Ich würde mich freuen, wenn ich in Zukunft mal dem Einen oder der Anderen von Euch in der Minderheit begegnen würde. Glaubt mir, es ist keine schlechte Erfahrung.
Mit internationalistischen Grüßen

Frankfurt, den 27. November 1995


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