Michael Ackermann

 

Kapitalismus-Fragen

 

Marginalien zu einem zeitgenössischen Dilemma

 

Aus der von der Sozialdemokratie losgetretenen »Kapitalismus-Debatte« spricht vor allem politische Ratlosigkeit, den Spagat zwischen »Standortpolitik« und »Gerechtigkeitslücke« wahltauglich zu überbrücken. Aber selbst Ökonomen und Kapitalvertreter stehen der transnationalen Hegemonie skeptisch gegenüber. Falsch ist eine Kritik, die den Blick auf den nationalen Rahmen verengt. Muss man vielleicht den Markt gegen Tendenzen des Kapitalismus verteidigen, die ihn sich gänzlich untertan machen wollen?

 

I.   Jenseits lustiger Wortspiele, prangender Ironie und karikierender Bilder: Die Vorstellung, das Kapital sei eine »Heuschreckenplage«, die wie ein Naturereignis über die wertschöpfende Arbeit, also die eigentlichen Produzenten des gesellschaftlichen Reichtums, herfällt, gehört zu einer langen Traditionskette von, wie man früher einmal sagte, »vulgärmarxistischen Versuchen«, die kapitalistischen Produktionsverhältnisse zu dämonisieren. In die gleiche Kategorie fallen auch die »Nutztiere«, die dem »raffgierigen« Kapital, scheinbar wohlmeinend und differenzierend, gegenübergestellt werden. Die Verwendung von Begriffen aus der Insekten- und Tierwelt, immer im Rückgriff auf apokalyptische, strafende oder säuberungsbetonte Fantasien, gehört, abgesehen von den verständlichen frühkapitalistischen bildkräftigen Empörungen, zu den schlechtesten Traditionen der Klassenkämpfe. Das unheilvolle sprachliche Arsenal ist letztlich auch unauflöslich mit der realen Auslöschung und Vernichtung von Klassen- und Volksfeinden verknüpft – bis hin zum Genozid an den europäischen Juden.

Es geht jedoch nicht darum, den Parteivorsitzenden der SPD, Müntefering, in einen unmittelbaren Zusammenhang dieser Geschichte zu stellen und gleichsam zum sprachlichen Nazi hochzustilisieren. Es geht darum, sich das dahinter liegende politische Elend zu vergegenwärtigen, welches in der von Müntefering aufgerufenen Kapitalismuskritik zum Ausdruck kommt.

 

II.   Die Kapitalismus-Frage ist bei Müntefering nicht mit einer grundsätzlichen Infragestellung des Kapitalismus verbunden. Es geht um »Auswüchse«. Der Zeitpunkt der Ausrufung hat mit den Landtagswahlen in NRW zu tun. Die Ausrufung stellte einen verzweifelten Versuch dar, dort die rot-grüne Regierungsmacht zu erhalten, um auf Bundes- und Bundesratsebene nicht vollends in der Handlungssackgasse zu landen. Darüber hinaus zielt die Diskussion auf die schwierige Lage, in die die rot-grüne Regierung mit dem Zurückbleiben der neuen Bundesländer, mit der Stagnation auf dem Arbeitsmarkt, dem Ausbleiben von wirtschaftlichem Wachstum und den Begleiterscheinungen der Reformen von Hartz IV und der Agenda 2010 geraten ist. Offensichtlich ist es die »Gerechtigkeitslücke«, die sich, nach etlichen Entscheidungen für niedrigere Gewinnbesteuerung et cetera, nicht nur im Bewusstsein vieler Mitglieder der sozialdemokratischen Partei, sondern auch bei einem erheblichen Teil der lohnabhängigen Bevölkerung auftut. Das Spannungsverhältnis zwischen »mehr Brutalitäten« einerseits und dem Beschwören der Verteidigung des Sozialstaates anderseits hat längst eine Stimmung der Verunsicherung und Angst erzeugt. Sie reicht bis weit hinein in die Mittelschichten und die jungen und jüngsten Altersgruppen.

Der Vorstoß von Müntefering verdeutlicht, dass die Sozialdemokratie sich in einem Spagat zwischen »Standortpolitik« und dem Bewusstsein über ein weit verbreitetes soziales Sicherungsbedürfnis befindet. Dieser Spagat ist keine neue Erscheinung, sondern prägt den rot-grünen Regierungskurs von Beginn an mit verschiedenen Richtungsausschlägen. Wurden nach der 1998er-Wahl noch sozialpolitische Geschenke angekündigt und ausgeteilt, setzte bald darauf, angesichts der Haushaltslage und der ökonomischen Krise der Sicherungssysteme, ein finanzpolitischer Kurs des Sparens sowie der Konsolidierung des Haushalts ein, für den eine Weile der »eiserne Hans«, also Finanzminister Eichel, stand. Spätestens mit dem Zusammenbruch der Neuen Ökonomie und einer grundlegenden Wachstumsschwäche bewegt sich die Bundesrepublik in einer Abschwungsspirale, in der auch die Politik der »ruhigen Hand« des Kanzlers kollabierte. Das darauf folgende Umschwenken in der Finanz-, Steuer-, Unternehmens- und Sozialpolitik stellt weniger ein von innerer Überzeugung geleitetes Einschwenken auf neoliberale Politik dar, sondern ist eher Ausweis einer aus verschiedenen Faktoren zusammengesetzten Konfusion und politischer Stocherei. Es ist nicht ohne Ironie, dass der von Blair und Schröder einmal angedachte »Dritte Weg« schnell sang- und klanglos begraben wurde, Elemente davon jedoch mit globalisierungsbegründetem Effet als Metapher für die »Sicherung des Sozialstaates« mit einseitiger Risikoverlagerung auf die Lohnabhängigen wieder auftauchten.(1)

Der vorherrschend gewordene Ruf des »Vorrang für die Ökonomie!«, kombiniert mit »Vorrang für Arbeit« kollidiert jedoch mit einer ökonomischen Realität, in der zunehmend große Teile des Kapitals, mithin der gesellschaftlichen Werteproduktion, nicht mehr nur den einzelbetrieblichen oder konzernstrategischen Markt- und Verwertungsinteressen gehorchen. In diese Entwicklung fügen sich die horrenden Unternehmens- und Aktiengewinne, die Debatte und die medialen Schaukämpfe um »Turbokapitalismus«, »Auswüchse«, »Hedge-Fonds« und überbordende Managergehälter emotionsgeladen ein.

 

III.   In weiten Teilen der wirtschaftlichen Eliten und Expertisen herrscht die Annahme vor, dass nur weitere Freiheiten der Kapital- und Finanzmärkte und die uneingeschränkte Herrschaft des freien Marktes zu mehr Wachstum führen können. Rahmen setzende Politik gilt als des Teufels, als Ausgeburt von Strangulierung und Bürokratisierung, der »rheinische Kapitalismus« als überlebt, die Mitbestimmung als schiere Blockade.(2) Demgegenüber finden sich auch die fachkundigen Kritiker dieses Kurses in der Minderheit und in der Defensive. Allerdings ist die Beunruhigung über diese Entwicklungen auch in die Kreise derjenigen vorgedrungen, die eine kapitalistische Produktionsweise im Grundsatz für alternativlos halten. Das zeigte sich auch an den harschen Interventionen von Josef Stiglitz wider ein in den Gewässern des Neoliberalismus steuerndes internationales Finanzsystem.

Nun setzt sich in einer kleinen Mahnschrift auch der Wirtschaftswissenschaftler John Kenneth Galbraith (geb. 1908) mit einigen Mythen der Wirtschaftswelt auseinander. In Die Ökonomie des unschuldigen Betruges spricht der ehemalige Berater der US-Präsidenten Kennedy und Johnson über den Realitätsverlust der heutigen Wirtschaft.(3) Die Rede von der freien Marktwirtschaft hält er ebenso für Humbug wie die vorgebliche Machtlosigkeit der Konzerne im gesellschaftspolitischen Raum. Begriffe wie Kapitalismus oder Monopolkapitalismus beschrieben durchaus exakt die Realität, ebenso real sei das Vordringen des militärisch-industriellen Komplexes in die Außenpolitik der Vereinigten Staaten. Auch in Sachen Bürokratie räumt Galbraith mit dem Mythos auf, nur der Staat und andere Großorganisationen seien von dieser Seuche erfasst. »Der Glaube, dass das Management von Konzernen kein bürokratischer Apparat sei, ist unsere raffinierteste und in jüngster Vergangenheit eine unserer offenkundigsten Formen von Betrug.«(4) Statt von »Firmenbürokratie« spreche man gerne von »Management«. Das ändere jedoch nichts daran, dass zu »den grundlegenden Merkmalen der Großunternehmen des 21. Jahrhunderts« ein Leitungssystem gehört, »das unbeschränkte Macht zur Selbstbereicherung gewährt«. Und: »Eine Gesellschaft, in deren Unternehmen eine Mentalität des Absahnens und Betrügens grassiert, ist moralisch und ökonomisch dem Niedergang geweiht«. Deswegen plädiert Galbraith am Ende für die Machtkontrolle großer Konzerne und der Aktienmärkte, bleibt in seinen Schlussfolgerungen aber ganz appellativ und unpräzise. Man spürt jedoch, wie tief die Skepsis des alten Herrn angesichts der Entwicklung des Weltkapitalismus sitzt – und wie ratlos in Sachen Zähmung er bleibt.

 

IV.   Diese Ratlosigkeit findet sich im verzweifelten Rudern der Sozialdemokratie wieder. Auch die Mischung aus proklamierter »Standortsicherung« und Mahnung zu unternehmerischem »Patriotismus« wirkt in erster Linie hilflos, hat aber parteigeschichtliche Vorläufer.(5) Münteferings »Kapitalismus-Frage« ist ja direkt verknüpft mit einem nationalstaatlichen Appell, der im Zuge der offensichtlichen Schwierigkeiten nationaler Politik – nicht nur der europäischen Einigungsprozesse, sondern der weltweiten ökonomischen Verkomplizierung wegen – der eigenen Wählermobilisierung zugute kommen sollte.

Das Problem dieser Position liegt darin, dass sie im Grunde allen realen Prozessen des kapitalistischen Weltmarktes entgegenläuft. Denn die forcierte Durchdringung der kapitalistischen Produktionsweise in den Kontinenten dieser Welt hat längst ein Ausmaß angenommen, in dem auch eine wirtschaftliche Großmacht wie Deutschland nur noch ein Akteur unter anderen ist.(6) Nicht nur bei Kapitalakkumulation und Produktivitätsraten, Ressourcenpotenzialen und Lohnkosten, Lohnnebenkosten und Bruttosozialprodukt erwachsen den traditionell führenden Industriestaaten zunehmend Konkurrenten.

Wir befinden uns mitten in einem großen Umbruch von der Industrie- zur informationstechnologischen Gesellschaft,(7) wir erleben das Ende des schon klassisch gewordenen Fordismus und die Anfänge einer Neuzusammensetzung der produktiven Elemente und Anteile der kapitalistischen Warenproduktion, der Verwandlung von materiellen in virtuelle Kapitalien und Märkte. Die Auflösung von lokal oder national gebundenen Stoff- und Produktionskreisläufen in Kontinente übergreifende Abläufe ist schon weit vorangeschritten. Die Zerschlagung selbst von mittleren und größeren Unternehmen, aber auch großer Konzerne und Produktionseinheiten, die Zerlegung und Neuzusammensetzung von Produktionsprozessen und Warenaustausch erscheinen im Zusammenhang mit der wachsenden Bedeutung der Finanz- und Aktienmärkte oft nur als Kapital- und Arbeitsplatzvernichtung zu Gunsten eines »spekulativen Kapitals«. Im Blick auf diese Exzesse wird häufig übersehen, dass sie auf dem Hintergrund von realen Verschiebungen in der Werteproduktion stattfinden. Und in ihnen »gewinnen« längst nicht mehr nur die Großkonzerne des Westens. Die andere Seite sind zunehmend die neuen und aufstrebenden Staaten und Großkapitale im System des Weltkapitalismus.

Das alles hat sich schon längst folgenreich auf die Kernmobilität der einheimischen arbeitsfähigen Bevölkerungen ausgewirkt. Abgesehen von den vorindustriellen Wanderungsbewegungen und Bevölkerungsverschiebungen hat der Kapitalismus nie zuvor eine solche Mobilität der Arbeitskraft hervorgetrieben. Diese Mobilität, basierend auf der virtuellen Vernetzung der Welt und ausgedehnter Dienstleistungskreisläufe, bringt kontinuierlich eine weltweite Verschiebung von potenzieller Arbeitskraft hervor, in der Einschluss und Ausschluss aus den Arbeitsmärkten einander heftig überschneiden. Sonja Zekri illustriert das in komprimierter Form sinnfällig:

»185 Millionen Menschen leben nach Angaben der UN fern der Heimat, um zu arbeiten. Dies sind tektonische Verschiebungen im Weltmaßstab, gegen die die hiesigen Zahlen verschwindend wirken. Allein in den Golfstaaten ist die Zahl der Migranten von einer Million im Jahr 1970 auf fast 9,6 Millionen (2000) angestiegen, davon arbeiten mehr als fünf Millionen allein in Saudi-Arabien. … In ganz Asien zählte die UN im Jahr 2000 etwa 44 Millionen Migranten, allein innerhalb Chinas schuften nicht nur 122 Millionen Binnenwanderarbeiter … das Reich der Mitte wird zusehends attraktiv für gebildete Ausländer. Und das sind nur die Männer. Vor dreißig Jahren waren auf den Philippinen zwölf Prozent der Auswanderer Frauen, inzwischen sind es 70 Prozent. Frauen machen über die Hälfte der globalen Migration aus, gebildete Frauen, die in der ersten Welt Frauenarbeiten übernehmen: Krankenschwestern, Pflegerinnen, Kindermädchen.«

Ihre Schlussfolgerung aus dieser Entwicklung lautet: »Während die UN hoffnungsfroh vermelden, dass der im Ausland erwirtschaftete Reichtum die Armut in den Heimatländern der Migranten spürbar lindere, reagieren die wohlhabenden Staaten ratlos, verängstigt, gelähmt. Und patriotische Appelle wirken als Sedativ, allerdings nur vorübergehend. Langfristig könnte die Verknüpfung von Vaterlandsliebe und Ökonomie ungewollte Effekte haben.«(8)

 

V.   Ungewollte Effekte kann die Verknüpfung von Patriotismus und Kapitalismuskritik leicht schon im Bereich der rechtsextremistischen Propaganda hervorbringen. Die Vorstellung von der Auslieferung an weltweit anonyme Finanz- und Wirtschaftsmächte stellt nicht nur ein erhebliches Verunsicherungspotenzial für die bislang nicht international mobilen lohnabhängig Beschäftigten dar, sie ist auch eine ausgezeichnete Basis für eine rechte oder reaktionäre Form der Globalisierungskritik, die die Erhaltung der nationalen Exklusivität mittels aggressiver Abschottung propagiert: »Deutschland zuerst«.

Ein Patriotismus, der darauf setzt, das einheimische Kapital entweder zum Verbündeten oder zum Verräter in der Konkurrenz um Märkte zu stilisieren, nährt vor allem gefährliche Illusionen. Zu ihnen gehört zum Beispiel in den wirtschaftspolitischen Expertisen und Forderungen die Annahme, es müssten nur die »richtigen Maßnahmen« getroffen werden, dann könne sich die Bundesrepublik ganz sicher in eine neue Phase ungebremsten Wachstums katapultieren.(9) Es gibt jedoch schon jetzt einige Anzeichen dafür, dass ein forcierter Abbau des Sozialstaates, der Angriff auf Gewerkschafts- und Betriebsverfassungsrechte, die Erosion von Tarifverträgen, die erleichterte Entlassung von Arbeitskräften, die Förderung von Niedriglohnbereichen und überhaupt ein um sich greifender reiner Einschränkungs- Diskurs auf Kosten der Lohnabhängigen (und des wachsenden Anteils der eh schon immobilen Benachteiligten) nur zur Beschleunigung einer depressiven Abwärtsbewegung führen wird. Das Bewusstsein eines »historischen Abstiegs« herrscht mittlerweile vor. Es ist begleitet von einer tief sitzenden Euphorie und Skepsis gegenüber allen Arten von Versprechungen – etwa den Arbeitsmarkt  betreffend.

Anders als etwa die hochmobile Einwanderungsgesellschaft der Vereinigten Staaten, die permanent aufholenden asiatischen Staaten (einschließlich des boomenden Chinas) und die in großen Umbrüchen befindlichen ostmitteleuropäischen Beitrittsstaaten erzielen die traditionellen europäischen kapitalistischen Industrienationen schon seit längerem meist nur noch relativ niedrige Wachstumsraten, obwohl die Produktivität der Arbeitskraft in diesen Kernländern nach wie vor weitaus höher ist als anderswo – höher beispielsweise auch als in den USA, in denen das nur durch längere Arbeitszeiten und weniger Urlaub zum Teil wettgemacht wird.(10)

Die Vorstellung, eine Anpassung nach unten (bei Löhnen, Sozialstandards etc.) könne schnell zu einer Angleichung an die niedrigeren Standards, etwa an diejenigen in Ostmitteleuropa oder gar an die Verhältnisse in vielen Staaten der ehemaligen Dritten Welt und damit zu dynamischen Wachstumsraten führen, ist schlicht illusionär – oder sie zielt eben auf die radikale Zerschlagung der bisherigen Wirtschafts- und Sozialverhältnisse in den kapitalistischen Kernländern.(11) Deren sozialpolitische Entwicklungspfade kommen jedoch gewachsenen nationalstaatlichen »Kulturen« gleich.(12) Wenn solche »Kulturen« auseinander genommen oder »beseitigt« werden wollen, bedeutet das auch, enorm destruktives Potenzial freizusetzen – allerdings nicht unbedingt im Sinne der Urheber.(13)

VI.   Bei allen nationalen Unterschieden handelt es sich bei den westeuropäischen Ländern durchwegs um »Gesellschaften der Ähnlichen«. Auf diesen Umstand weist Robert Castel in seiner Untersuchung Die Stärkung des Sozialen hin. Der Forschungsdirektor an der Pariser École des Hautes Études en Sciences Sociales vollzieht in seiner Schrift Leben im neuen Wohlfahrtsstaat noch einmal die historische Entwicklung von bürgerlicher Sicherheit im Rechtsstaat und sozialer Sicherheit im Sozialstaat nach.(14) In der »Rückkehr der Unsicherheit« und in der Entstehung neuer Risikoproblematiken und ihrer Privatisierung sieht er eine Gefährdung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. »Entschieden muss daran erinnert werden, dass das Sozialversicherungssystem nicht nur das Ziel verfolgt, den Schwächsten Hilfe zu bieten, damit sie nicht völlig vor die Hunde gehen. Genau betrachtet, ist es für alle die Grundvoraussetzung dafür, dass sie auch weiterhin zu einer Gesellschaft der Ähnlichen gehören.« Dem Autor, der unmittelbar in die französische Sozialstaatsdebatte verwickelt ist, geht es nicht um Gleichheit, sondern um die Stärkung sich ähnelnder Individuen. Doch diese »›Gesellschaft von Individuen‹ kann nicht existieren – es sei denn, die Individuen sind voneinander getrennt oder atomisiert –, ohne dass öffentliche Regulationssysteme im Namen der Solidargemeinschaft dafür Sorge tragen, dass das Allgemeinwohl Vorrang vor der Konkurrenz privater Interessen hat«.(15)

Dabei gibt sich Robert Castel nicht der Illusion hin, dass dies noch im Rahmen des jeweiligen Nationalstaates möglich wäre. Ähnlich wie Ulrich Beck(16) sieht es auch Robert Castel: Die Stärkung des Sozialen kann letztlich nur in einem internationalen Rahmen und ihrer Institutionalisierung gelingen. Dafür allerdings sind nationale Patriotismen geradezu Gift. Sie verschärfen letztlich nur die Konkurrenz zwischen den je nationalen Lohnabhängigen, anstatt ihnen ein Bewusstsein von der Notwendigkeit einer transnationalen Vernetzung ohne Abschottung zu geben. Das Gefälle in der neuen Europäischen Union kann gewiss nicht schnell abgebaut werden, aber ohne ein transnationales Netzwerk von Sozial- und Mindeststandards, von Wettbewerbsregelungen könnte sich die neue Union in einen Sprengsatz nationaler Alleingangs- und Abgrenzungsversuche verwandeln.

 

VII.   Zu einem solchen transnationalen Netzwerk gehören die Organisationen der Lohnabhängigen, die Gewerkschaften. Deren Stellung in den jeweiligen Nationalstaaten ist jedoch in den letzten Jahrzehnten schwächer geworden. Für die Bundesrepublik gilt: Ihre Erfolge bis in die Achtzigerjahre des 20. Jahrhunderts hinein sind Legende, seitdem geht der Organisationsgrad beständig zurück, und mittlerweile befinden sie sich ganz offensichtlich in einer strukturellen Krise, die durch die neuen Bundesländer nur noch verstärkt wird. Die Krise besteht jedoch nicht nur darin, dass die Arbeitgeberorganisationen an einem Korporatismus längst nicht mehr interessiert sind, also gezielt auf eine durchgreifende Schwächung hinarbeiten. Die Krise rührt auch aus der Veränderung der Arbeitswelt selbst, aus dem Verschwinden der Arbeiterkulturen, aus der Flexibilisierung und der Aufweichung traditioneller Arbeitsbeziehungen, aus Individualisierungsprozessen, aus dem Verlust an identitätsbildender Kollektivkraft und aus der fatalen Indifferenz gegenüber dem stetig wachsenden Heer der Arbeitslosen. So haben sich die Gewerkschaften tendenziell in die Vertreter der »Arbeitsplatzbesitzer« verwandelt, was sie vor allem für die nachwachsenden Lohnabhängigen, die zunehmend schwerer überhaupt in den Arbeitsprozess hineinkommen, noch unattraktiver macht.

Oskar Negt hat in Wozu noch Gewerkschaften? die Stadien ihrer Entwicklung in der Bundesrepublik zusammengefasst, in der die oben genannten Faktoren – auch die Entwicklung des Kapitalismus seit den Fünfzigerjahren – eine große Rolle spielen.(17) In seiner »Streitschrift« konstatiert er eine Krise der Gewerkschaftspolitik. Weil der Reproduktionsbereich im Leben der Lohnabhängigen eine immer größere Rolle spiele, plädiert er für eine Kulturalisierung der Gewerkschaftspolitik, für ein »außerbetriebliches Standbein«, für die »horizontale Erweiterung«. »Nicht die Verengung des Interessenbegriffs, sondern seine Erweiterung, vor allem durch soziokulturelle Anreicherungen ist an der Zeit.« Daraus folgt: Stärkung der Ortskartelle des DGB, forcierte betriebliche und außerbetriebliche Bildungspolitik, Stadtteilarbeit, Durchdemokratisierung der Gewerkschaftsorganisation und theoretisch – gegen Hannah Arendt und Karl Marx – die Erweiterung des Arbeitsbegriffs in den Reproduktionsbereich hinein.

Was Oskar Negt anspricht, sind die wunden Punkte der Gewerkschaften schon seit den Siebzigerjahren, geschuldet der Vorherrschaft einer Sozialdemokratie, die keine Gegenmacht mehr sein wollte. Negt will sie nun stärker politisieren und gesellschaftspolitisch weit links positionieren. Schon das ist problematisch, weil es keine Mehrheit in der Mitgliedschaft und auch nicht im gesellschaftlichen Umfeld dafür geben dürfte. Seine Quintessenz aber lautet darüber hinaus: »Ich glaube, wir befinden uns heute mitten in einer jener geschichtlichen Situationen, in der nichts mehr realistisch ist, was sich nur auf die Erhaltung der bestehenden Verhältnisse richtet.« Schön gesagt. Was sich jedoch jenseits der Erhaltung der bestehenden Verhältnisse abspielen soll, diese Antwort bleibt Oskar Negt nicht nur in Sachen Gewerkschaften schuldig. Diese Leerstelle bezeichnet exakt das zeitgenössische Dilemma. Es gibt abgesehen von allen Abwehrkämpfen und -affekten keine Gegenentwürfe zum real existierenden Kapitalismus.(18)

 

VIII.   Oder doch? André Gorz knüpft in seinem Buch Wissen, Wert und Kapital. Zur Kritik der Wissensökonomie an diese Problemsituation an.(19) Das Kapital sei dabei, das »lebendige Wissen des Individuums« in Kapitaleigenschaften zu verwandeln, sich also auf neuer Stufenleiter die Fähigkeiten der Produzenten anzuverwandeln. Er konstatiert eine Krise des Wertbegriffs, da die Herausbildung einer immateriellen Produktion, gekennzeichnet durch Wissensverarbeitung und Dienstleistungstätigkeiten, zunehmend die materielle Produktionsweise selbst und damit die Messbarkeit von Arbeit und Wert aufhebt. Er konstatiert und imaginiert den nahenden Zusammenbruch einer auf dem Tauschwert basierenden Produktion, in der durch das Kapital auch der klassische Lohnarbeiter aufgelöst werde. An dessen Stelle trete die Produktion von Konsumenten in der Form einer »antisozialen Sozialisierung«. Der neue Kapitalismus verwandle auch die immaterielle Welt, die Welt der individuellen Fähigkeiten und des Wissens, zunehmend in eine Welt von Waren, erzeuge damit eine noch nicht gekannte Form des Griffes nach dem Unbewussten und erhalte somit einen zunehmend totalitären Charakter. Ein »neuer Klassenkampf« müsse um die Kontrolle der Öffentlichkeit, der Alltagskultur und der Gemeingüter stattfinden. Dieser Kampf könne sich einerseits auf die »Dissidenten des digitalen Kapitalismus« stützen, die als Hacker oder in Form von attac und allgemein der Anti-Globalisierungsbewegung die Widerständigkeit in Form des Netzwerkes organisieren, und müsse andererseits um ein Existenzgeld geführt werden, das die Menschen vom Sich-selbst-Produzieren, etwa in der Form der Ich-AGs, befreie.

Die an Marx orientierten und ihn weiterführen wollenden Analysen von André Gorz haben – bei aller Klugheit im Detail – allerdings das Problem, dass sie den Referenzrahmen der schon etwas länger traditionell kapitalistisch grundierten Gesellschaften des Westens nicht verlassen, sondern deren mittlerweile schon fast insularen Charakter noch einmal betonen, so als befänden wir uns noch immer in der umhegten Zone des Kalten Krieges, die uns einen Sonderstatus garantieren könnte. Der Epochenbruch von 1989, die Durchsetzung kapitalistischer Produktionsverhältnisse auf breiter Front, bleibt, ähnlich wie bei Oskar Negt, auch bei André Gorz ganz unverarbeitet(20) und die Argumentation an den scheinbar souveränen Nationalstaat gebunden. Just diese Annahme führt zu einer entscheidenden Frage: Können alternative Gesellschaftsmodell-Projektionen inselförmig in Angriff genommen werden, ohne dabei von einem dominanten Produktions- und Lebensumfeld des Kapitalismus nicht letztlich doch überfremdet zu werden?

 

IX.   Die Entwicklung der Alternativ- und selbst verwalteten Produktionsbetriebe, eines neuen Genossenschaftswesens, die Tausch- Börsen-Netzwerke, die Kollektive innerhalb des ökologischen Sektors – hier und anderswo – haben bis heute bewiesen, dass die Herstellung und Verteidigung von Parallelzonen oder -gesellschaften durchaus möglich ist. Sie können sich dabei schon jetzt und mehr noch zukünftig auch auf die neuen »Produktionsmittel« wie freie Software, den »Computer als Betrieb« (Frithjof Bergmanns konkrete Utopie einer Ich-Fabrik), Netzwerkstrukturen und so fort stützen. »Eine andere Welt ist möglich!« Selbstverständlich. Nur wird man in all dem keine Keimformen des Neuen im Alten, einer neuen Gesellschaft erkennen, sondern eher Minderheitenprojekte in einer Mehrheitsgesellschaft. Das konkret gelebte »Andere« wäre praktisch-faktisch auch nicht in der Lage eine gesellschaftliche Produktion und Versorgung zu organisieren. Zugleich sind sie aber ein Stachel im Fleische des Kapitalismus, sind notwendig als ein durchaus realer und Bewusstseinsprozess. Ein theoretisch-utopisches Gegenmodell zu freiem Markt/zum Kapitalismus stellen sie freilich nicht dar.

Robert Castel zufolge können Alternativen weiterhin nur auf der Basis einer Produktionsweise gedacht werden, die durch den Markt konstituiert ist. »Eine Gesellschaft ohne Markt wäre eine große Gemeinschaft, das heißt eine Art der gesellschaftlichen Organisation, von der uns die ältere und jüngere Vergangenheit lehrt, dass sie gemeinhin auf unbarmherzigen Herrschaftsstrukturen oder auf entwürdigenden paternalistischen Abhängigkeitsbeziehungen beruhte. Den Markt abschaffen ist eine durch und durch reaktionäre Option, eine Art rückwärts gewandte Utopie, die bereits Marx verspottete. Moderne ist ohne Markt nicht denkbar. Die Frage lautet daher, ob die Markthegemonie begrenzt, ob der Markt eingehegt werden kann.« Muss man also den Markt vielleicht gegen Tendenzen des Kapitalismus verteidigen, die ihn sich gänzlich untertan machen wollen?

Auch die schärfste Kritik an den Destruktivkräften des Kapitalismus – an wachsenden Entfremdungsgefühlen, am Konsumismus, an der Ausplünderung der menschlichen und natürlichen Ressourcen –, sollte mit dieser Möglichkeit rechnen. Und sie kommt wohl nicht darum herum, die »Gestaltung der Globalisierung« unter kapitalistischen Rahmenbedingungen als eine Horizontlinie zu betrachten. Denn eine »neue Weltordnung«, im Guten wie im Schlechten, existiert noch nicht. Definition und Ausfüllung sind weiterhin umkämpft. Mit Oskar Negt gesagt, aber gegen ihn gewendet: Ich glaube, wir befinden uns heute mitten in einer jener geschichtlichen Situationen, in der alles unrealistisch ist, was sich gänzlich von der Gestaltung der bestehenden Verhältnisse abwendet.(21)

 

1

In einem Gespräch mit Anthony Giddens, dem Vordenker des »Dritten Weges«, kann man nachvollziehen, mit welcher Reserve, aber auch Ratlosigkeit, er dem Regierungshandeln der Sozialdemokratie in der Bundesrepublik gegenübersteht – siehe: www.oeko-net.de/kommune/kommune03-05/agiddens.htm

2

Die Bundesrepublik dürfte in Sachen Infrastruktur (Verkehrswege, Mobilitätseffizienz, Sachleistungen, Gewerbegebiete) zu den kapitalfreundlichsten Ländern der Welt gehören. Was Bund, Länder, Städte und Gemeinden dafür über Steuergelder finanzieren, vornehmlich aufgebracht von der lohnabhängigen Bevölkerung, wird allerdings nicht bilanziert. Die Stellungnahmen der Unternehmerverbände klingen jedoch häufig so, als befänden sie sich in einem »Schwellenland«. Die viel beschworene »Mecker-Kultur« ist jedenfalls gewiss kein Privileg der Lohnabhängigen.

3

John Kenneth Galbraith: Die Ökonomie des unschuldigen Betruges. Vom Realitätsverlust der heutigen Wirtschaft. Aus dem Amerikanischen von Thorsten Schmidt, München (Siedler Verlag) 2005 (111 S., 14,00 €)

4

Auf die Unterscheidung von schuldigem und unschuldigem Betrug geht Galbraith in seinem Buch nicht so recht ein. Welche Formen der Bereicherung der jeweiligen Kategorie zuzuordnen wären, bleibt auch unklar.

5

Peter Schyga: »Die neue Bürgergesellschaft als ›Schicksalsgemeinschaft‹«, Kommune 2/05; »Gefährliche Absetzbewegungen vom bundesrepublikanischen Konsens«, Kommune 6/04; »Historische und aktuelle Wandlungen der Sozialdemokratie«, Kommune 4/04.

6

Herbert Hönigsberger hat auf das Missverhältnis zwischen dem Wissen der politischen Akteure um diese Tatsache und der öffentlichen Verarbeitung dieses Wissens hingewiesen, das auch wahltaktischen und medialen Turboöffentlichkeiten geschuldet ist. Siehe: »Außer Atem. Die politische Klasse im Hamsterrad«, Kommune 5/04.

7

Siehe Roland Schaeffer: »Die Grünen nach der Systemveränderung«, Kommune 2/05.

8

Sonja Zekri: »Patriotische Spiele. Gefährliche Mischung: Vaterlandsliebe und Ökonomie«, SZ, 6.5.05.

9

Siehe Helmut Wiesenthal: »›Neoliberale‹ Reformen als Katalysator eines neuen Parteiensystems?«, Kommune 4/04, und: »Ausbruch aus der Zeitschleife? Das Ende des Modells Deutschland«. – Ich teile in weiten Teilen Helmut Wiesenthals Kritik an Erscheinungen der Immobilität innerhalb der Sozialsysteme, der mangelnden Aktivierung auf dem Arbeitsmarkt, auch seine Kritik der Gewerkschaften bezüglich ihrer Indifferenz gegenüber der Arbeitslosigkeit sowie der föderalistischen Blockade im Verhältnis von Bundestag und Bundesrat. – Skeptischer stimmt mich seine Annahme, Vorleistungen, sprich: Abstriche, seien nur von Seiten der Lohnabhängigen zu erbringen und reine Vorfahrt für die Ökonomie würde den deutschen Wirtschaftsladen wieder in Schwung bringen.

10

Siehe Tony Judt: »Europa gegen Amerika. Entsteht die neue Supermacht in der Alten Welt?«, Merkur 5/05. –Tony Judt kämmt die Annahme, das wirtschaftliche und soziale System der USA sei jener der europäischen Wirtschaftsnationen überlegen, etwas gegen den Strich.

11

Gerne wird hier auf das Beispiel Großbritannien verwiesen. Die »Thatcher-Revolution« beruht jedoch auf einem industriegesellschaftlichen Sonderfall. Großbritannien ist nach dem Zweiten Weltkrieg gegenüber seinen westeuropäischen Konkurrenten infrastrukturell und industriepolitisch zurückgeblieben. Heute kann man es noch an dem Niedergang ihrer Automobilindustrie ablesen. – Das lag eben nicht nur an der »Closed-Shop-Mentalität« oder der großen Macht der britischen Gewerkschaften.

12

Siehe hierzu: Elmar Rieger/Stephan Leibfried: Kultur versus Globalisierung. Sozialpolitische Theologie in Konfuzianismus und Christentum, Frankfurt am Main (edition suhrkamp) 2004 (262 S., 11,00 €). – Die Autoren untersuchen Phasen und Dynamik der Sozialpolitik in den westlichen Industriegesellschaften im Kontext/Kontrast von Religionen und Sozialpolitik in Ostasien. Sie konstatieren für die hiesigen Gesellschaften die christliche Einfärbung der Sozialpolitik und ihre tiefe kulturelle Verankerung. – Innerhalb des Globalisierungsprozesses sehen sie, nach den Exzessen des Neoliberalismus z. B. beim IWF, schon wieder mehr eine Tendenz hin zu Demokratie und sozialer Regulierung, weil das »globalisierte Kapital« durchaus Interesse an berechenbaren, stabilen Verhältnissen habe.

13

Otto Singer hat auf die »Pfadabhängigkeit« der verschiedenen Kapitalismen hingewiesen: »Eine Welt – ein Kapitalismus?«, Kommune 5/00.

14

Robert Castel: Die Stärkung des Sozialen. Leben im neuen Wohlfahrtsstaat. Aus dem Französischen von Michael Tillmann, Hamburg (Hamburger Edition) 2005 (136 S., 12,00 €)

15

Siehe Heribert Prantl: Kein schöner Land. Die Zerstörung der

sozialen Gerechtigkeit, München (Droemer Verlag) 2005 (208 S., 12,90 €).

16

Siehe: Ulrich Beck: Macht und Gegenmacht im globalen Zeitalter. Neue politische Ökonomie, Frankfurt am Main (edition suhrkamp) 2002 (478 S., 20,00 €); ders.: »Europäische Lebenslügen. Gegen die nationalen Autonomie-Träume«, SZ, 3.5.05.

17

Oskar Negt: Wozu noch Gewerkschaften? Eine Streitschrift, Göttingen (Steidl Verlag) 2004 (175 S., 14,00 €).

18

Siehe Werner Bätzing: »Der fundamentale Wandel. Persönliche Verhaltensweisen im Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft«, Kommune 1/05. – In dem gerade erscheinenden Buch (gemeinsam mit Evelyn Hanzig-Bätzing) Entgrenzte Welten. Zur Verdrängung des Menschen durch Globalisierung von Fortschritt und Freiheit wird eine Strategie der Verweigerung gegenüber der sich beschleunigenden Entwicklung der Entfremdung entworfen.

19

André Gorz: Wissen, Wert und Kapital. Zur Kritik der Wissensökonomie. Aus dem Französischen übersetzt von Jadja Wolf, Zürich (Rotpunktverlag) 2004 (133, 14,80 €).

20

Es ist mehr als ärgerlich, dass sich eine Linke, die nach Alternativen zum Kapitalismus sucht, nicht grundsätzlich mit den Faktoren des gescheiterten Sozialismus beschäftigt: mit Menschenbild, Avantgarde- und Klassenbegriff, Autoritarismus, Feindbildproduktion, Gleichheitsphantasien und Vorstellungen von einer Ökonomie, die mit ihrem »Raubbau an Mensch und Natur« die kapitalistischen Produktionsverhältnisse weit übertroffen hat. Das voluntaristische Überspringen dieses Scheiterns in Form besonders heftiger Kritik an der »Globalisierung« verdeutlicht nur die Krise des utopischen Denkens.

21

In Kultur versus Globalisierung schreiben Elmar Rieger/Stephan Leibfried: »Es sind paradoxerweise die Fortschritte der Globalisierung der Marktwirtschaft, die das Interesse an der Demokratie erneuert haben – nicht zuletzt deshalb, weil die institutionellen Bedingungen dieser Globalisierung immer noch einen politischen Willen und massendemokratischen Segen, also Politik benötigen.« (Seite 224) Siehe Fußnote 12.