Tsafrir Cohen

 

Andere Wege zur Shoah

 

Gespräch mit dem israelischen Künstler Roee Rosen [Arbeitsbeispiel]

Die Ausstellung »Wonderyears« in Berlin demonstrierte den Versuch jüngerer israelischer Künstler dem ritualisierten Gedenken an den Holocaust zu entkommen. Roee Rosen, einer der Exponenten, hat 1997 mit seiner Installation »Live and Die as Eva Braun« über die letzten Augenblicke im Leben Eva Brauns einen Eklat hervorgerufen, nachdem Hitlers Konterfei nie zuvor in Israel bei einer Ausstellung zu sehen war. Unser Autor Tsafrir Cohen sprach mit Roee Rosen in Jerusalem.

 

Als Roee Rosen, Jahrgang 1963, zum ersten Mal, in Form eines kleinen schwarzen Dreiecks auf der Oberlippe eines Selbstporträts als Kind – das erste Bild in einer Serie von etwa sechzig Bildern, die zusammen mit einem längeren Prosatext »Live and Die as Eva Braun« ausmachen – Hitler in die israelische bildende Kunst einführte, galt er als ein Sonderling in der israelischen Kunstszene. Heute wird er von einer ganzen Reihe israelischer Künstler als Mentor betrachtet.

Die anhaltende Präsenz der Shoah-Rezeption für das israelische Selbstverständnis kann anhand der Reaktionen zu »Live and Die as Eva Braun« beobachtet werden: Als es 1997 im Israel Museum in Jerusalem ausgestellt wurde, entstand ein Proteststurm, an dem sich auch viele Knesset-Abgeordnete beteiligten. Der Skandal fand seinen Höhepunkt in einem TV-Auftritt des jetzigen Justizministers Lapid, der »im Namen der Shoah« den »so genannten Künstler« der Missachtung der Shoah bezichtigte und dem Museum damit drohte, die Subventionen zu kürzen, falls die Ausstellung nicht geschlossen würde.

Ausgehend von »Live and Die as Eva Braun« stellte die Ausstellung »Wonderyears – Über die Rolle der Shoah und des Nationalsozialismus in der heutigen israelischen Gesellschaft«, ein Projekt der Neuen Gesellschaft für Bildende Kunst, junge israelische Künstler vor, die den Stellenwert der Shoah und des Nationalsozialismus innerhalb der heutigen israelischen Gesellschaft reflektierten. Wonderyears – eine andere Bezeichnung für die Jahre des Heranwachsens – zeugte nicht nur von der anhaltenden Präsenz der Shoah in Kindheit, Jugend und Familie in Israel, sondern setzte sich mit der Transformation von Geschichte in eine Semiotik der Differenz zwischen »Gut« und »Böse« auseinander. Darüber hinaus thematisierte Wonderyears die Funktion der Shoah im Selbstverständnis der israelischen Gesellschaft als traumatisierte Nation und beleuchtete deren Bedeutung in der gegenwärtigen politischen Situation, wozu auch die Auseinandersetzung mit der Rolle des Opferdiskurses innerhalb des israelisch-palästinensischen Diskurses gehört.

 

Tsafrir Cohen: »Live and Die as Eva Braun« ist das einzige Ihrer Werke, das sich mit der Shoah und dem Nationalsozialismus implizit beschäftigt. Was bewog Sie, sich dieses Themas anzunehmen?

Roee Rosen: In den zehn Jahren zwischen meiner ersten Ausstellung und »Live and Die as Eva Braun« habe ich das Thema »Shoah« bewusst gemieden, obwohl dies für mich ein immanentes und mein Leben bestimmendes Thema war und ist. Ich hatte das Gefühl, dass es keinen angemessenen Weg gibt, diesem Thema zu begegnen. Die herkömmlichen Arten sich der Shoah anzunähern, die ich in den zwei großen jüdischen Zentren beobachten konnte, in Israel, meiner Heimat, und in New York, meiner Wahlheimat, in der ich 1987-97 gelebt habe, waren mir immer suspekt.

Schon als Kind empfand ich intuitiv, wie viele andere, geradezu ein feindseliges Gefühl gegenüber den Shoah-Ritualen samt dem Absingen von gewissen Liedern und der notwendigen seriösen und »authentischen« Gesichtsmimik.

Doch auch das Nichtstun stellte für mich keinen Ausweg dar. Es waren auch persönliche Erinnerungen aus meinem Elternhaus – mein Vater ist ein Überlebender –, die einen Schatten über meine gesamte Kindheit warfen, die mich dazu brachten, wie viele andere, mich permanent und fast besessen mit der Shoah zu befassen.

 

Im ersten Bild von »Live and Die as Eva Braun« haben Sie sich als Kind mit einem Hitler-Schnauzbart porträtiert. Damit wurde zum ersten Mal der Nationalsozialismus und damit der Täter, im Gegensatz zum viel behandelten Opfer, zum Gegenstand in der israelischen Kunst. Was motivierte Sie dazu den Täter anzugehen, und noch mehr, das gesamte Konzept von »Live and Die as Eva Braun« in der ungewöhnlichen Imperativform zu halten, die den Zuschauer dazu auffordert, sich mit Eva Braun zu identifizieren?

Ich wusste, wenn wir nach Tätern und Opfern, nach der Shoah und dem Nationalsozialismus fragen, dann fragen wir uns nach uns selbst. Inwieweit bin ich der »Nazi«? Was bedeutet die Selbstdefinition als »Opfer«? Welche Privilegien gibt mir diese Definition? Kann man die Opfer repräsentieren?

Die Annäherung an dieses historische Kapitel mit mimetischen Mitteln, das heißt der Versuch, das geschichtliche Moment zu rekonstruieren – die Lichter werden ausgeschaltet und du bist eingeladen, dich in eine andere Welt zu projizieren, die man nicht nur bei Spielbergs vulgärer Schindlers Liste, sondern auch in Polanskis Der Pianist beobachten kann –, wollte ich unbedingt vermeiden. Denn die Behauptung von geschichtlicher Authentizität bei einer »Geschichte«, die ja immer eine erfundene ist, ist immer eine Lüge. Und hinter dieser Behauptung vermutete ich nicht nur mangelndes kritisches Bewusstsein, sondern immer auch das Verlangen nach moralischer Überlegenheit. Und ich will und kann nicht im Namen von anderen sprechen. Der Begriff der »Zweiten Generation« oder der »Dritten Generation« basiert nicht nur auf einem problematischen Authentizitätsbegriff, er ist mehr noch ein ausbeuterischer und korrupter Begriff, der nicht zufällig entstanden ist.

»Live and Die as Eva Braun« wurde daher mit bewusst anachronistischen Mitteln geschaffen um zu unterstreichen, dass es hierbei keinen mimetischen Bezug zu dem gibt, was wirklich geschah, dass der Zuschauer nicht aufgefordert wird, in die Haut der Anna Frank zu schlüpfen.

 

Über »Live and Die as Eva Braun« gab es in Israel starke Kritik. Auch weil Sie sich in dieser Serie mit Themen befasst haben, die nicht nur nichts mit der Shoah zu tun haben, sondern auch als anrüchig gelten könnten.

In dem Film Schindlers Liste sieht man eine Großaufnahme von Schamhaaren. Als in Basic Instinct Sharon Stones Schamhaare ein wenig durch ihr Höschen zu sehen waren, gab es einen Skandal, da dies gegen Hollywoods Kodex verstieß. Doch bei Schindlers Liste war es – zum ersten und letzten Mal bislang – legitim, Schamhaare zu zeigen. Warum? Weil es um Höheres ging, da es um einen Ort ging, der angeblich kein sexuelles Verlangen kennt. Ich dagegen wollte mich mit dem Oxymoron beschäftigen, das Auschwitz für uns darstellt. Auch die Auseinandersetzung mit dieser Totalität findet innerhalb unseres Lebens statt. Wir können nicht diese Totalität außerhalb unseres Lebens halten. Auch Auschwitz bleibt fragmentarisch, es widerspricht sich selbst. Wir schauen uns eine Sendung über Primo Levi an und sind mehr denn je von einer totalen Erfahrung ergriffen, doch fünf Minuten später wollen wir wissen, wie das Wetter morgen sein wird. Daher habe ich auch in Eva Braun Themenstränge benutzt, mit denen ich mich auch anderswo beschäftige: Die kapitalistische, konsumorientierte Sprache, die Sprache der Werbung, die jüdische und die sexuelle Identität.

Die Fülle der Bilder, die Kreuzung von pornografischen japanischen Zeichnungen und von Images aus den Gebrüder-Grimm-Märchen, die Anlehnung an Busch, an den Romantiker Caspar David Friedrich, der Gebrauch von Kindheitsphotographien und das Echo der Moderne samt dem Hakenkreuz als Schmuckelement – all das sollte eine Einladung, auch eine sexuelle, eine Verschönerung darstellen, die den Zuschauer verzaubert, ein Giftapfel, der nach innen verführt. Dort begegnet er jedoch einem anderen, diagonal entgegengesetzten und gewalttätigen Text.

 

»Live and Die as Eva Braun« wurde 1997 im Israel Museum in Jerusalem gezeigt. Heute, im Jahr 2003, gibt es einige Dutzend Künstler in Israel, die sich damit befassen. Hat sich hier etwas verändert?

Die Shoah und das Trauma sind nach wie vor unsichtbar in der israelischen Kunst. Eine erstaunliche Tatsache für jeden, der weiß, dass die zionistische Ratio notwendig auf der Shoah basiert, dass sich die israelischen Medien, das Establishment und das Erziehungssystem ständig damit befassen und jeden Einzelnen damit überfluten. Die Tatsache, dass »Wonderyears«, die erste Ausstellung, die sich damit thematisch befasst, erst 2003, und zwar in Berlin stattfand, spricht Bände.

 

Sie sprachen vorhin von den Ähnlichkeiten zwischen New York und Israel. Doch hat die Shoah nicht eine spezielle israelische Rezeption erfahren?

Natürlich. Hier, wo die Statue der Helden des Warschauer Gettos – mit Handgranaten und Gewehren in der Hand überlebensgroß auf den Ruinen stehend – das zentrale Bild des Gedenkens darstellt, hat der Staat die Shoah auf eine manipulierende Art und nach dem Nützlichkeitsprinzip missbraucht, und der Kunst stand die Rolle zu, dies symbolisch zu flankieren.

Der Slogan »von der Shoah zur Wiederaufstehung« stellt ein zentrales Element in der israelischen Rezeption dar. Er macht aus der Shoah einen Teil einer Gleichung, die gebräuchlichen, konkreten politischen Wert hat: der historische Beweis für die Richtigkeit und die Notwendigkeit des Zionismus und des Staates Israel. Diese und andere semantische Verrenkungen in zentralen israelischen Texten zeugen von einer Instrumentalisierung der Shoah. Natürlich basiert jeder nationale Apparat auf Angst, und Israel hat damit einen idealen Weg gefunden, sich seine mörderischen Taten nicht nur zu rechtfertigen, sondern als eine Notwendigkeit anzusehen: Als Opfer befinden wir uns immer in einer Kampfsituation, und in einer Kampfsituation müssen wir morden.

Die Shoah spielt für die Etablierung Israels eine zentrale historische Rolle. Und es ist normal, jede Bombe mit den Gaskammern automatisch zu vergleichen. Es ist wie mit schwarzen Flecken: Sie sehen alle gleich aus. Die Assoziation stellt sich automatisch ein; und die Shoah stellt ein immer währendes ahistorisches Ereignis dar.

 

Also ist die Shoah der endgültige Beweis für die Unmöglichkeit von jüdischen Gemeinden außerhalb von Israel. Und im Grunde eine Absage an die Möglichkeit eines Lebens jenseits ethnischer, nationaler Grenzen?

Das gesamte zionistische Ethos stand der jüdischen Diaspora-Identität mit großer Ambivalenz gegenüber. Da können sehr wohl Parallelen gezogen werden zwischen dem Zionismus und der rassistischen Ideologie am Ende des 19. und am Anfang des 20. Jahrhunderts in Bezug auf das Bild des Juden: ein passives, weibliches Bild. Die Lösung bestand für die Zionisten in einer virtuellen »Vernichtung«, an deren Ende der Diaspora-Jude durch einen virilen, aktiven Menschenschlag ersetzt wird, der eine unmittelbare Verbindung zum Land hat, der nicht wie die Lämmer passiv in die Vernichtung geführt wird. Grob gesagt wurde der Sabbre, also der ideelle Israeli, auf dem Grab des Diasporajuden aufgebaut.

 

Der historische Zionismus hatte gewiss solche Reflexe. Doch stimmt das immer noch?

Sicherlich nicht wie zu den Anfangszeiten. Doch nach wie vor existieren in Israel kollektive Postulate, ein »Wir«, das es so in anderen westlichen Ländern nicht gibt. Als ich mir überlegt habe, ob ich meinen Sohn beschneiden lasse, hat man mich zwar davor gewarnt, dass das Kind unter seinem physischen Anderssein in der Schule gehänselt würde, doch es wurde auch mit der »Beziehung zum jüdischen Volk« argumentiert. Dieses für mich barbarische »Wir« existiert auch unter Akademikern und »linken« Intellektuellen, die in westlichen Ländern so nicht argumentieren würden. Auch die Kultur hat ihren Teil dazu beigetragen. Fast sämtliche etablierte israelische Schriftsteller, wie Amos Oz oder Abraham B. Yehoshua, agieren als Avantgarde, doch sie sprechen aus dem kollektiven Diskurs, der natürlich vom Establishment beherrscht wird, und in seinem Namen. Mit dem Unterschied, dass sie versuchen, das Establishment ethischer zu gestalten.

Das Gleiche gilt für die Shoah. Wir haben es heute mit einer neuen Art von alltäglichem Terrorismus zu tun, der unser aller Leben beeinflusst. Doch anstatt darüber nachzudenken, warum diese neue Art des Terrorismus hier gedeiht, anstatt einen Diskurs über die Besatzung und die Lebensverhältnisse der Besetzten zu führen, fragen sich Schriftsteller wie Akademiker, warum die uns dies antun, warum wir immer Opfer sein müssen. Dies ist eine rhetorische Frage, eine automatisierte Rückkehr zur von der Shoah hergeleiteten Angst. Die Verbindung zur Shoah ist auch bei den gebildeten Schichten ein natürlicher Vorgang, ein intellektueller Reflex. Dies ist auch ein Moment von Mystifizierung. Man sieht einen Shahid und denkt Shoah. Der Zusammenhang ist ein mystischer und keiner, der mit dem Hier und Jetzt, mit Ursache und Wirkung zu tun hat.