Ein Muß für "Balkanexperten"

Über Johann Georg Reißmüllers Leitartikeln und Kommentaren, die viel weniger ideologisch gefärbt sind als das Gezeter über ihre "Einseitigkeit", wird leicht vergessen, daß in der FAZ nicht nur sehr früh politisch Position bezogen wurde zu Krieg und Kriegsursachen im früheren Jugoslawien, sondern daß dort von Victor Meier in seinen Korrespondenzen von Anfang an auch gründlich informiert wurde.

Victor Meier, dem man als Schweizer und langjährigem Südosteuropa-Korrespondenten der Neuen Züricher Zeitung nicht ohne weiteres einer großdeutschen Brille verdächtigen kann, hat seinen Ruhestand genutzt, um das erste gründliche Buch in deutscher Sprache über Vorgeschichte, Entstehung und Verlauf dieses Krieges zu schreiben. Dabei verbindet er die dreißigjährigen Erfahrungen als Korrespondent, die Auswertung seiner Aufzeichnungen und Erinnerungen, mit weiter zurückreichenden historischen Kenntnissen und den Ergebnissen zahlreicher Gespräche, die er in Vorbereitung des Buches teilweise erst vor kurzem geführt hat. Aus historischer Kenntnis, persönlicher Erfahrung und nachträglichen Gesprächen ist ein aktuelles Buch von über vierhundert Seiten entstanden, das man noch lange brauchen wird. Wer sich als ,Balkanexperte" aufspielen will, etwa Peter Glotz, muß jetzt dieses Buch wenigstens kennen. Groben Unsinn kann er nur noch glaubhaft zu machen versuchen, indem er sich an diesem Buch reibt. Er wird es also schwerer haben. Das chronologisch gegliederte Buch führt bis an die Ereignisse von Mitte dieses Jahres, bis an die Aufgabe von Srebrenica und Zepa durch die UNO und die Liquidierung dieser zu Schutzzonen erklärten bosnischen Städte heran. Es ist also zeitnah. Dabei hilft es zugleich dem Gedächtnis auch sorgfältiger Beobachter der Ereignisse durch seine genaue Darstellung immer wieder auf die Sprünge. Wieviel hat man vergessen in diesen vier Jahren, wieviel hat man gar nicht zur Kenntnis genommen, wieviel bringt man heute durcheinander! Von diesen Schwierigkeiten leben die wohlfeilen Behauptungen an Biertischen, an linken etwa die, daß die Anerkenungspolitik Genschers den Krieg, wenn nicht ausgelöst, so doch unvermeidlich gemacht habe. Damit glaubte noch Joschka Fischer sein Plädoyer für internationale Intervention gegen linke Kritik stark machen zu müssen. Wer diesen Unsinn weiter vorbringen will, muß künftig Victor Meier ausdrücklich widerlegen. An Biertischen und in Talkshows kann bekanntlich jeder alles behaupten. Insofern wäre es eine zivilisatorische Tat, solchen Terror mit der schlichten Frage zu durchbrechen: Hast du ,den Meier" denn gelesen?

Dabei geht es nicht um dessen Urteile, sondern um das Minimum von Kenntnissen, ohne das überhaupt kein Urteil vernünftig getroffen werden kann. Hätte Jürgen Habermas zum Beispiel, der den Krieg nicht entfernt so haßt, wie er die FAZ verabscheut, seinerzeit die Korrespondenzen von Meier studiert und sich nicht nur über die Leitartikel von Reißmüller erhitzt, hätte er schon damals besser geurteilt, statt in der Bundesrepublik überall Reaktionäre und im früheren Jugoslawien keine Aggressoren zu entdecken. Man kann Meiers Buch also auch als Beitrag zur Kommunikationstheorie verstehen: Mach dich über den Charakter eines Konfliktes und seiner Kontrahenten kundig, statt jeden Konflikt nur als Störung herrschaftsfreier Kommunikation wahrzunehmen und die Kontrahenten als Störer gleichzusetzen.
(js)

Victor Meier, Wie Jugoslawien verspielt wurde, München (Beck'sche Reihe) 1995 (464 S., 29.80 DM)


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Kommune Dezember 1995