Göttliches Musiktalent

Zur Geschichte, Renaissance und Aktualität der jüdischen Klezmermusik


Christoph Wagner

Die Weisheit liegt in den Büchern. Für die frommen Juden Osteuropas war das Studium der heiligen Texte der Weg zum Heil, und Buchstaben und Schrift bildeten den Schlüssel dazu. Nicht lesen zu können war ein Makel, der auch die Musik betraf. Wer die Notenschrift nicht beherrschte, zählte zum Musikantengesindel, dem man aus dem Weg ging. Solche Leute wurden "Klezmorim" (Einzahl: Klezmer) genannt, was durchaus ein Schimpfwort war. "Dafür hätte ich Dir früher eine runtergehauen!", sagt der Klarinettist Max Epstein heute. Epstein, der 1912 in Brooklyn zur Welt kam und einst zusammen mit seinen Brüdern eine der erfolgreichsten Kapellen des jüdischen New Yorks bildete (eine neue Platte der Epstein- Brothers ist gerade erschienen), ist heute einer der letzten, der sie noch alle gekannt hat: die großen Emigranten-Musiker aus Weißrußland, Polen, Rumänien oder Ungarn, die Anfang unseres Jahrhunderts in die USA gekommen waren.

Unter ihnen war auch der 24jährige Dovid Tarraschuk. Er hatte 1921 seine ukrainische Heimat verlassen, wo es immer wieder zu blutigen Ausschreitungen und Überfällen gekommen war. Schätzungen besagen, daß zwischen 1918 und 1921 ungefähr 150000 Juden Pogromen zum Opfer fielen. In der alten Heimat hatte ihm sein Vater noch das Notenlesen beigebracht, um dem Sohn die Demütigung zu ersparen, als ungebildeter musikalischer Dilettant angesehen zu werden. Tarraschuk ging in Ellis Island an Land, wo die Behörden kurzerhand seine Klarinette beschlagnahmten und vernichteten. "Aus Desinfektionsgründen!", wie es hieß. Zuerst schlug er sich als Kürschner durch und konnte erst allmählich wieder als Musiker Fuß fassen. Vom gelegentlichen Hochzeitsunterhalter avancierte er unter seinem amerikanisierten Namen Dave Tarras ab Mitte der zwanziger Jahre zum Star der jüdischen Musikszene in den USA. Als Solist und Begleiter nahm er Dutzende von Schallplatten auf, spielten in "Live"-Shows im jiddischen Radio und wurde von den großen Hotels der jüdischen Erholungsorte zu einträglichen Engagements verpflichtet. Seine makellose Technik kombiniert mit einem leicht aufgerauhten Ton und feinem Vibrato gaben ihm einen unverwechselbaren Sound, den er noch mit Ziehtönen und Trillern anreicherte. Wenn Dave Tarras zum Solo ansetzte, wurde es still im Saal.

In der Alten Welt war alles anders gewesen. Dort hatten es Musiker schwer. Die Familienkapelle der Tarraschuks, die aus zehn Mitgliedern bestand und vom Onkel an der Geige geleitet wurde, trat überall auf, wo im weiteren Umkreis ein Fest gefeiert wurde. Ein Zuckerschlecken war das nicht. Selten wurde man mit Respekt behandelt. Die Gagen waren kümmerlich, wenn überhaupt etwas bezahlt wurde, und die Musiker waren froh, "wenn sie gute Speisen und Lebkuchen für ihre Familien mitnehmen durften", wie Joseph Roth berichtete. Befanden sich reiche Gästen im Publikum, konnte man auf etwas Trinkgeld hoffen. Gespielt wurde für jedermann, der eine ,Kapelye" benötigte, egal ob Jude, Zigeuner oder Goi, Bauer oder Edelmann. Denn kein Klezmer konnte es sich leisten, einen Verdienst auszuschlagen, auch wenn die Anfahrt weit war. "Wir fuhren immer mit dem Pferdewagen in das Schtetl, wo wir zur Hochzeit spielen sollten, und wir spielten beim Licht der Kerosinlampen", erzählt der Schlagzeuger Ben Bazyler. ,Der Baß war so alt, daß er auseinanderfiel. Er wurde mit Bindfäden zusammengehalten. Wenn wir auf dem Wagen fuhren, schaukelte es, und vom Baß lösten sich ganze Stücke ab. Mein Vater wollte nicht, daß ich Musiker werde, weil es ein Hundeleben war."

Das Repertoire der jüdischen Musikanten in Osteuropa spiegelte ihre prekäre soziale Lage wider. Da das Publikum und sein Geschmack variierte, konnte man seine Auftrittsmöglichkeiten dadurch steigern, daß man möglichst viele verschiedene Stilarten beherrschte. Von den traditionellen Hochzeitsmelodien über jiddische Instrumentalmusik bis zu aktuellen Modetänze war vieles gefragt. Sogar klassische Musik wurde verlangt, und wehe man hatte den Wunschtitel nicht parat. Klezmorim blieben selten unter sich. Gemischte Kapellen waren häufig, und in Ungarn sollen sogar ,Zigeunerorchester" aufgetaucht sein, die ganz von jüdischen Musikern gebildet wurden - und umgekehrt. Aus dem Gros der Musikanten ragten einzelne legendäre Figuren heraus, um die sich abenteuerliche Geschichten rankten. Eine solche Sagengestalt war der Klezmergeiger Shepsl, der regelmäßig von seinem polnischen Landbesitzer zur Konzertunterhaltung für seine erlauchten Gästen eingeladen wurde, wofür er tausend Rubel und ein Diplom erhielt, das ihm bescheinigte, über "göttliches Musiktalent" zu verfügen, obwohl er keine formale Ausbildung besaß.

Die osteuropäischen Klezmerkapellen waren bis Ende des vorigen Jahrhunderts überwiegend mit Streichern besetzt, wobei die Geige den Ton angab. Dann drängte sich allmählich die Klarinette in den Vordergrund. Sie wurde für die jiddische Musik in Amerika das, was die Mundharmonika für den Blues oder das Akkordeon für die Cajunmusik waren: das stilprägende Instrument. Vom schrillen Aufheulen bis zum weichen Summen, vom kunstvollen Triller bis zum expressiven Überblasen reichte ihre Ausdrucksskala, wobei der Klarinettenton kräftig genug war, um der Melodie klare Konturen zu verleihen und sich von der Begleitung abzuheben. Dazu kamen menschliche Eigenschaften. Die Klarinette konnte wimmern und jauchzen, lachen und weinen.

Nach dem Ersten Weltkriegs erlebte die Klezmermusik in den USA ihr "Golden Age". Die aufkommende Schallplattenindustrie sowie unzählige Tanzsäle, Varietes, Theater und Stummfilmkinos boten üppigen Verdienst. Um aktuell zu bleiben, wurden Jazzelemente in die jiddische Musik aufgenommen. Doch der Boom währte nicht lange. Die Weltwirtschaftskrise stürzte die gesamte Unterhaltungs- und Vergnügungsbranche in eine tiefe Depression, von der sich die Klezmermusik nie mehr ganz erholte. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg kamen die ,heymishn" Tänze - die "Bulgars" und "Freylekhs" - immer mehr aus der Mode. Erst die siebziger Jahre brachten den Umschwung. Die Klarinette wurde zur Fanfare, die das Comeback begleitete. Im Rückgriff auf ihre jiddischen Wurzeln begannen junge amerikanische Musiker die Tanzweisen ihrer Großeltern wiederzuentdecken, wobei sich die Rückbesinnung gerade noch rechtzeitig vollzog, um die Klezmermusik vor dem Verschwinden zu bewahren. In Europa durch Holocaust und Stalinismus vernichtet, waren auch in den USA nur noch wenige der großen alten Klezmorim am Leben. Dave Tarras war einer von ihnen. Um ihn scharte sich ein Kreis von Schülern, die begierig die authentischen Spieltechniken und Aufführungspraktiken aufsogen. Dieser Zirkel von Enthusiasten wurde zum Motor des Wiederbeginns. Etliche neue Gruppen wurden gegründet, die sich "Klezmorim", "Kapelye", ,Brave Old World" oder ,Klezmer Conservatory Band" nannten und in Konzerten, auf Festivals und Platten der jüdischen Musik wieder eine Stimme gaben. In einer exzellenten Zusammenstellung unter der Federführung des Klezmermusikers und -forschers Joel Rubin und der Judaistin Rita Ottens hat das Münchner Trikont-Label die Wiederentdeckung der traditionellen Klezmermusik dokumentiert, wobei die Aufnahmen vom Ende der siebziger Jahre bis in die Gegenwart reichen. Dabei wird deutlich, daß das Klezmer-Revival nie eine ausschließlich amerikanische Angelegenheit war. Auch in Israel, Kanada, Bulgarien und der Ukraine gab es Gruppen und Solisten, die daran Anteil nahmen. Für Deutschland kommt dem argentinisch-jüdischen Klarinettisten Giora Feidman das Verdienst zu, die Klänge der Opfer des Holocausts den Enkeln der Täter wieder bekannt gemacht zu haben. Und indem Feidman bei einer Gedenkveranstaltung zum 50. Jahrestag der Befreiung von der Nazidiktatur mit seiner Klarinette durch die Reihen der Abgeordneten von Bundestag und Bundesrat ging, sorgte er dafür, daß die Millionen ermordeten Juden wenigstens in ihrer Musik anwesend waren.

Seit Beginn der neunziger Jahre befindet sich die Klezmermusik abermals im Umbruch, die mittlerweile vor allem in den USA zum mächtigen Trend angewachsen ist mit mehr als 130 Formationen. Frische Ideen würfeln die alten Muster durcheinander. Neue Musiker entwickeln experimentellen Geist und befreien sich aus den Fesseln der Tradition. Wie ein zweiter Sampler zum aktuellen Stand der Klezmermusik hörbar macht, kommen die brachialsten Aufrührer aus dem Umfeld der "radical jewish culture", wie das ,New Klezmer Trio" aus Kalifornien oder der New Yorker Multiinstrumentalist Elliott Sharp, die zwischen elektronischen Soundlawinen und freien Improvisationen nach neuen Wegen suchen. Dagegen versuchen der schwarze Klarinettist Don Byron sowie der in Amsterdam lebende Pianist Burton Greene die Klezmerklänge in Richtung Jazz zu öffnen, während Frank London und seine "Klezmatics" von anderen Visionen geleitet werden. Auf ihrer aktuellen Einspielung modeln sie mit Rocksounds, Funkrhythmen und Weltmusikzutaten die Klezmermusik zum chassidischen Ethno-Beat um, der allemal das Zeug dazu hat, neben Salsa, Zouk und Cumbia in den Discos der neunziger Jahre für neuen Schwung zu sorgen.

Wenn das gelingt, könnte es bald auf dem "Dancefloor" wieder zu ähnlichen Szenen kommen, wie sie Joseph Roth bei einem chassidischen Fest Anfang des Jahrhunderts beobachtet hat. Die Akteure "faßten sich bei den Händen, tanzten in der Runde, lösten den Ring und klatschte in die Hände, warfen die Köpfe im Takt nach links und rechts." Damit wäre der jiddischen Musik ihre Seele als Tanzmusik zurückgegeben.

Platten:

Zur Geschichte der Klezmermusik: Yikhes - Frühe Klezmer-Aufnahmen von 1907-1939, Trikont US- 0179

Zum Klezmer-Revival: Joel Rubin with the Epstein Brothers Orchestra - Zeydes un Eyniklekh, Wergo SM 1610-2
Doyres - Traditional Klezmer Recordings 1979-94, Trikont US-0206

Zur Aktualität der Klezmermusik: Shteygers - New Klezmer Music 1991-94, Trikont US-0207
The Klezmatics - Jews with Horns, Piranha pir 35-2


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Kommune Dezember 1995