Berlin nach der Wahl
In den Wahlergebnissen von Berlin zeigen sich gesamtdeutsche politische Problemlagen wie im Brennpunkt. Die CDU wurde mit 37,4 Prozent stärkste Partei, die SPD erlitt eine furchtbare Wahlniederlage und wurde auf ihr historisches Tief von 23,6 Prozent reduziert. Zusammen erreichen zwar die beiden Parteien der bisherigen großen Koalition noch eine Zweidrittelmehrheit der Abgeordnetenhausmandate, aber die Sozialdemokraten sind wie am Boden zerstört, und ein großer Teil der Partei will lieber in die Opposition, als sich an der Seite der CDU zu verschleißen. Wann es zu einer Regierungsbildung kommt, ist derzeit noch offen. Die PDS wurde mit 14,6 Prozent die drittstärkste Partei in der Hauptstadt und mit 36,3 Prozent mit Abstand stärkste Partei in Ostberlin. Sie hat sich unbestreitbar als östliche Volkspartei etabliert. Die Bündnisgrünen legten kräftig auf 13,2 Prozent zu, sie erreichten erstmals zwei Direktmandate in einem Landesparlament, aber wegen der Verluste der SPD sind rot-grüne Mehrheiten ferner denn je.
Die politisch-kulturelle Ost-West-Spaltung der Stadt spiegelt sich in der parteipolitischen Konstellation: CDU, SPD und Grüne sind als Gesamtparteien wesentlich westlich geprägt und bilden - nach der Abwahl der FDP und der Republikaner - das Drei-Parteien-System des Westteils, das von der CDU dominiert wird. Das Ostberliner Milieu aber wird auf Landesebene institutionell faktisch durch die PDS allein vertreten, so daß sich im Ostteil ein Vier-Parteien-System unter Dominanz der PDS etabliert hat. So ist auf Landesebene tatsächlich die seit 1990 absehbare politische Blockade eingetreten: bleibt die Ausgrenzung der PDS bestehen, sind schon rein rechnerisch nur große Koalitionen möglich, in denen die SPD zur immer kleineren Mehrheitsbeschafferin der CDU schrumpft, während sich die PDS als einzige institutionalisierte Vertretung der Ostdeutschen etabliert und die Bündnisgrünen nur die Chance haben, aus der Opposition heraus die Zukunftsthemen zu besetzen. Eine Tolerierung von Rot-Grün nach dem Modell von Sachsen-Anhalt kommt nicht in Betracht, insbesondere, weil den Westberlinern nicht zu vermitteln wäre, warum sie sich nach dem Zusammenbruch des ehemaligen kommunistischen Gegners nun von dessen Nachfolgepartei regieren lassen sollten. Bei dieser Aussicht auf eine Dauerregierung der CDU stellt sich bei vielen schon eine Depression ein.
Deutlich anders dagegen sieht die Lage in den Stadtbezirken aus. Bei der zeitgleich zum Landesparlament durchgeführten Wahl der Bezirksverordnetenversammlungen ergaben sich vielfältige und unterschiedliche Perspektiven. In neun der elf Ostberliner Bezirke ist die PDS stärkste Partei und könnte nach bisherigem Bezirksrecht die Bürgermeister stellen - wenn die große Koalition nicht durch eine rasche Gesetzesänderung kurz vor der Wahl dieses Recht der stärksten Bezirksfraktionen wieder beseitigt hätte. Aber in fünf Bezirken verfügt die PDS allein über mehr Sitze als CDU und SPD zusammen, hier wird man an einer Zusammenarbeit nicht vorbeikommen. Nur in vier Ostbezirken ergibt sich eine Mehrheit für eine "große" Koalition aus SPD und CDU, aber ob nicht auch dort breitere oder andere Bündnisse geschlossen werden, wird sich zeigen.
Im Westteil der Stadt hat die CDU nunmehr in sieben von zwölf Bezirken die absolute Mehrheit der Sitze, nur in vier Bezirken im alten Stadtkern Westberlins sind rechnerisch entweder rot-grüne Mehrheiten oder große Koalitionen denkbar. In einem oder zwei dieser Bezirke werden erstmals grüne BürgermeisterInnen gewählt werden. Auf Bezirksebene wird es also alle nur denkbaren politischen Konstellationen tatsächlich geben - mit einer Ausnahme: Während selbst die Bündnisgrünen in einem Bezirk (Kreuzberg) die Mehrheit stellen, verloren die ehemals in Berlin mit absoluten Mehrheiten herrschenden Sozialdemokraten ohne Ausnahme überall den ersten Platz.
Man sollte aber nicht denken, daß es der Ost-West-Gegensatz allein ist, der zur politischen Zerrissenheit führt. Eine differenzierte Wahlanalyse macht das deutlich.
Während für die Einschätzung des politischen Ergebnisses der Wahlen nur die Mandatsverteilung ausschlaggebend ist, die auf der Stimmverteilung der Wähler beruht, ist für die Diskussion über gesellschaftliche Einflußfaktoren die ganze Bevölkerung wichtig. Die Repräsentativität der in das Abgeordnetenhaus gewählten Parteien sinkt dramatisch. Über 40 Prozent der über achtzehnjährigen Berliner haben entweder nicht gewählt, waren als Ausländer von der Wahl ausgeschlossen oder wählten Parteien, denen von vornherein keine Chance zugesprochen wurde, Parlamentssitze zu erringen. Selbst eine große Koalition mit Zweidrittelmehrheit der Sitze hat nicht mehr als 36 Prozent der Stimmen der Berliner über achtzehn Jahre erhalten.
Die Konsensfähigkeit der Politik gegenüber den Bürgern wird dadurch in Frage gestellt, daß sich immer deutlicher unterschiedliche sozial-kulturelle Milieus verfestigen, die auch politisch immer weiter auseinanderdriften.
In dieser wahrlich zerklüfteten politischen Landschaft sind die großen Parteien völlig orientierungslos. Die CDU repräsentiert weniger politische Programmatik, als daß sie zentrale Orientierungen verkörpert: wirtschaftliche Stärke und Leistung, daraus abgeleitete Macht und die Fähigkeit, mit ihr umzugehen, Sicherheit nach außen und durch einen starken Ordnungsstaat auch nach innen. Hinzu kommen einige Grundwerte: Familie, Fleiß, eigene Anstrengung, die Hochschätzung eines mit Eigenheim und Auto materialisierten Lebensstils sowie politische Grundsätze wie Erhaltung der sozialen Komponenten der Marktwirtschaft und die leistungsgerechte Ausgestaltung des Sozialstaats. Diese Orientierungen, wozu auch die Abgrenzung der deutschen Lebensart gegen Ausländer, Einwanderer oder multikulturelle Anwandlungen gehört, machen überall den Grundbestand des politischen Erfolgs der Union aus.
Zur Lösung der Fragen, wie die sozialen Spannungen, die stadtplanerischen Herausforderungen, der gewachsene Anspruch auf direkte Bürgerbeteiligung und die Verwerfungen der Ost-West- Spannungen in Berlin gelöst werden sollen, bieten sich alle diese in fünf Jahrzehnten Bundesrepublik so eminent erfolgreichen politischen Versatzstücke nicht an. Das einzige Rezept der Berliner CDU ist das Hoffen auf die Zukunft. Sie thematisiert allenfalls die innere Sicherheit, den Antikommunismus, die Autofahrerinteressen und das Versprechen der Stabilität des sie tragenden Westmilieus. Die Berliner CDU sagt deshalb auch gar nichts über Berlins Probleme oder Zukunft, sie akzentuiert ihre Abgrenzung gegen alle anderen Parteien und wartet in einer vermeintlichen Position der Stärke ab. Um ihres Überlebens willen muß sie an der vollständigen Ausgrenzung der PDS festhalten, nur das garantiert ihr die Aussicht auf große Koalitionen. Sie hat sich durch einen demagogischen Wahlkampf - der freilich ganz dem begrenzten geistigen Horizont und den eingeschliffenen politischen Vorurteilen des Berliner Landesverbandes entsprach - selbst alle möglichen Partner verprellt. Das Abgeordnetenhaus ist politisch so tief gespalten wie nie zuvor: Die Berliner SPD als Partner der großen Koalition ist am Boden zerstört und demoralisiert, zu den Grünen und zur PDS hat die Berliner CDU keinerlei Kontakt- oder auch nur Verständnismöglichkeit. Da die große Koalition geschlossen vor der Wahl über die wahre Haushaltslage die Berliner belogen hat, wird das bereits vor den Koalitionsverhandlungen beschworene drastische Sparprogramm allerdings auch die westlichen CDU-Anhänger vor eine harte Probe stellen. Die CDU lebt in Berlin politisch ganz von der Spaltung der Stadt und der Bewegungsunfähigkeit der SPD.
Die SPD lebt seit je davon, gegen die bürgerliche Politik ein inhaltliches Reformprogramm aufzustellen und erfolgreich für die Verbesserung der sozialen Lage von Arbeitern und Angestellten einzutreten; in erster Linie durch Ausbau der tarifvertraglichen Leistungen und der sozialstaatlichen Absicherung, des Ausbaus des Bildungssystems und durch sozialen Wohnungsbau. Als historisches Projekt wurde all dies irgendwann in den siebziger Jahren erfolgreich abgeschlossen. Seitdem steht die SPD objektiv vor der Alternative, ob sie mit den Grünen ein neues politisches Feld besetzen oder mit ihrer alten Stammwählerschaft eine populistisch-soziale Politik machen sollte. In Berlin leistete sich die SPD den kapitalen Fehler in eine große Koalition zu gehen, ohne diese Streitfrage zu klären. Infolgedessen machte sie rechte Politik möglich, ohne von ihr überzeugt zu sein, aber auch ohne selbst entweder sozial-populistische Interessen oder ökologisch-soziale Perspektiven zu artikulieren. Die Beobachter müssen nach der Wahl erstaunt zur Kenntnis nehmen, daß auch das lokale SPD-Führungspersonal offenbar in totaler Unkenntnis der Emotionen und Wünsche der eigenen Basis agiert hat und dem allseits heftig verbreiteten Wunsch nach ein wenig sozialdemokratischer Identität so gar nicht Rechnung getragen hat.
Die Berliner SPD-Basis war vor der Wahl Umfragen zufolge etwa fifty-fifty in der Frage "Große Koalition oder Rot- Grün" gespalten. Als falscher Kompromiß wurden im Wahlkampf zur Beruhigung der einen Hälfte nicht die SPD- Erfolge in der Regierung herausgestellt, zur Beruhigung der anderen Hälfte aber auch nicht die Weichen auf Rot-Grün gestellt, so daß wiederum völlig offen blieb, was die SPD in Berlin nun eigentlich will. Immerhin erreichten die SPD- Rechten, daß als Motto für den Wahlkampf zunächst das CDU-Motto der letzten Bundestagswahl ("Sicher in Zukunft") plakatiert wurde - als die CDU hämisch darauf hinwies, schützte man ein Versehen der Werbeagentur vor - und daß selbst die Spitzenkandidatin jeden Angriff auf den Koalitionspartner im Wahlkampf vermied. Als dann in der Wahlnacht der Einbruch festgestellt werden mußte, brach sich allerdings die Enttäuschung auch bei allen Bahn: Die Anhänger der großen Koalition waren ernüchtert, daß ihnen ein Quasi-CDU-Kurs nicht von den Wählern honoriert wird, die "Linken" sahen sich natürlich bestätigt und versuchen nun mit aller Macht, wenn schon nicht Rot-Grün, so doch wenigstens die Tolerierung zu erzwingen. Aus dieser Lage entstand die unsinnige Lesart der "Besinnungspause", die diese traditionsreiche Partei nach der großen Niederlage brauche. Tatsächlich hat sie eine Richtungsentscheidung nötig, genau die, zu der sie seit Jahren nicht imstande ist. Die SPD hätte in Berlin den Abstieg von 60 Prozent auf nunmehr 24 Prozent auch gut entweder mit einer populistischen Arbeiterpolitik oder mit einer rot- grünen Zukunftsperspektive hingekriegt. Sie hätte dann allerdings heute bei dem Rest ihrer Wähler noch ihre Glaubwürdigkeit behalten und könnte so eine Zukunftsperspektive aufbauen. Trotz des vehementen Wehklagens der Parteibasis wäre derzeit jede andere Entwicklung als eine Neuauflage der großen Koalition und eine Fortsetzung der Perspektivlosigkeit einem Wunder gleichzusetzen.
Die Bündnisgrünen müssen sich auf neue Herausforderungen einstellen. In Ostberlin bestätigt die Korrelationsanalyse des Wahlergebnisses, daß kein Wählerpotential so weit auseinanderliegt, wie das ihre und das der PDS. Die Bündnisgrünen haben mit einer Ostberliner Spitzenkandidatin ihre dramatischen Stimmenverluste aus den letzten Wahlgängen deutlich wieder wettmachen können. Sie haben die Chance, zumindest in gewissen Teilen Ostberlins als Alternative zur PDS und zu den perspektivlosen großen Parteien zu wirken: ohne hysterische Abgrenzung, ohne Furcht vor Gemeinsamkeiten in praktischen politischen Fragen, aber mit dem bewußten Ziel, eine Alternative zum politischen Gegner zu zeigen. Die Chancen der Bündnisgrünen liegen in Berlin darin, daß sich in den Bezirken alle möglichen Konstellationen ausprobieren lassen. Je nach Lage muß versucht werden Mehrheiten für grüne Inhalte zu finden: in Ostberlin auch mit der PDS, im Westen in der niedergehenden Innenstadt mit der SPD und in den bürgerlich-liberalen Bezirken, dort wo es geht, auch mit der CDU. Dieser Kurs ist natürlich weitaus schwieriger als die bisherige Strategie des langfristigen Aufbaus eines rot- grünen Reformbündnisses. Zur notwendigen neuen Kursbestimmung gehört ein größeres Maß an Unabhängigkeit, neuen Ideen und auch unkonventionellen Vorschlägen, als in der letzten Zeit in der Routine der Alltagspolitik sichtbar wurde. Die Schärfung des eigenen Profils auch im Hinblick auf ein überzeugendes Zukunftsbild einer ökologischen und sozialen Metropole, Verteidigung demokratischer-freiheitlicher Spielräume und die Stärkung von individueller und sozialer Verantwortung im Gemeinwesen sind ein politisches Feld, von dem aus die Bündnisgrünen ihre Identität gegenüber den anderen Parteien bewahren und gleichzeitig in Sachfragen unterschiedliche Parteikonstellationen zur Durchsetzung praktischer Maßnahmen finden können.
Die PDS hat zunächst einmal genügend Wahlerfolge, um ihre inneren Widersprüche zu verdecken. Sie hält nur mühsam ein im Kern konservatives Wählerpotential mit einem manchmal sogar alternativ angehauchten Auftreten zusammen. Für kommunale Verwaltung wird sie allemal genügend Kompetenzen aus alten Zeiten mitbringen. Um von sich aus die politische Isolierung zu durchbrechen, müßte sie sich von ihrem in DDR-Zeiten diskreditierten Personal trennen, wozu sie offenkundig bislang nicht bereit ist. Zukünftige Zusammenarbeit muß dennoch daran gemessen werden. Die sicherste Strategie, die Spaltung aufrechtzuerhalten, bestünde darin, den bisherigen Kurs der vollständigen Ausgrenzung fortzusetzen. An der PDS vorbei wird es keine "normalen Beziehungen" zwischen der Bevölkerung in West und Ost geben, also muß auf der praktischen Ebene der Druck verstärkt werden, daß die PDS ohne belastete politische Repräsentanten Teil demokratischer Politik wird.
In der aktuellen Landespolitik zeichnen sich hingegen ganz andere Prioritäten ab. Die Berliner Stadtpolitik bereitet sich bereits auf die Volksabstimmung im Mai 1996 vor, die über die Vereinigung mit dem Land Brandenburg entscheiden soll. Auch aus diesem Grund war der Wahlkampf nur gedämpft: Alle Landespolitiker erwarten eigentlich, daß 1995 das letzte Berliner Abgeordnetenhaus gewählt wurde. Die zukünftige Stadtverwaltung wird zwischen den Bezirken und der Landesregierung in Potsdam eine schwache Position haben, schon deshalb, weil die Berliner Landespolitiker wie gebannt auf das zukünftige neue Land schauen und es keine selbstbewußten BürgerInnen gibt, die für die Interessen einer eigenständigen Hauptstadt streiten. Es sieht so aus, als würden die Fusionsbefürworter in der CDU, der SPD und bei den Bündnisgrünen vor den enormen sozialen und kulturellen Problemen fliehen, um sich entweder in den Lokalpatriotismus des Kiezes oder in relativ ferne Ministerien zurückzuziehen. Für die politische Zukunft der Hauptstadt Berlin sind das sehr schlechte Aussichten.
Fraglich ist allerdings, ob hier nicht schon wieder eine Rechnung ohne die WählerInnen gemacht wurde. So gab es bei der Volksabstimmung zur neuen Gesamtberliner Landesverfassung (ein inzwischen ungeliebtes Erbstück der Wende), die zeitgleich mit den Wahlen stattfand, bis zu 35 Prozent Gegenstimmen, wesentlich aus dem Grund, daß die Verfassung eben jene Auflösung des Landes Berlin ermöglicht, die von vielen durchaus nicht erwünscht ist. In Brandenburg sind nicht einmal die Parlamentsparteien einheitlich dafür, die PDS lehnt die Fusion sowieso ab. Es ist etwas unerfindlich, wie die allgemeine politische Stimmungslage der Stadt, in der im November noch niemand sichtbar ist, der überhaupt regieren kann und will, sich bis zum Mai in einen hochgestimmten Aufbruch in ein neues Land wandeln soll. Trotz des niedrigen Quorums der einfachen Mehrheit von 25 Prozent der Wahlberechtigten mag sich im Mai also ein überraschendes Ergebnis zeigen, das die beteiligten Landepolitiker vielleicht dazu verurteilt, sich noch lange mit der sperrigen sozialen Realität Berlins auseinanderzusetzen. Statt einer Flucht vor den Problemen der Hauptstadt hätte die Berliner Politik zuallererst die Aufgabe der Überwindung der Ost-West-Gegensätze in der Stadt anzugehen.