Im Dickicht der Parteienlandschaft

Vor den Wahlen in Rußland


Erhard Stölting

Trotz seiner gegenüber dem Präsidenten geschwächten Position hat das russische Parlament politisches Gewicht. Es ist zwar keine vollgültige Legislative im westlichen Sinne, aber es ist eine der Hauptbühnen, auf der russische Politik dem russischen Publikum vorgeführt wird. 270 Gruppierungen bewarben sich diesmal, dreißig wurden zugelassen. Hinzu kommt eine große Anzahl unabhängiger Kandidaten. Gemessen an der Zahl der politischen Organisationen und Parteien ist Rußland wahrscheinlich das demokratischste Land der Welt. Wichtiger als die Parteien aber sind die viel weniger zahlreichen Stimmungslagen. Vor allem über sie werden die Wahlen einen Eindruck von der Situation der russischen Föderation schaffen.

Die Stimmungen sind nicht gut. Hoffnungsfrohe Aufbruchstimmungen gibt es kaum. Einer sehr kleinen Gruppe von Gewinnern der Umbrüche steht eine sehr große Menge gegenüber, der es erheblich schlechter geht. Die soziale Not der russischen Bevölkerung ist inzwischen selbst im Westen hinreichend bekannt. Die Einführung des Kapitalismus hat das Leben der Bevölkerung nicht verbessert, die Mobilisierung antikapitalistischer Einstellungen gilt als politisch erfolgversprechend. Die beschworenen Stimmungen sind aber trotz aller auftauchenden Stalin-Bilder nicht stalinistisch in einem historischen Sinne. Sie sind nostalgisch und lassen zugleich Raum für die neue weitverbreitete Religiosität. Das gemeinsame Auftreten von orthodoxem Kreuz und Stalinbild ist nur für eine Minderheit historisch belesener Personen kurios. Tatsächlich verweist es auf eine einheitliche Stimmung, die sich gegen die Armut, die Schutzlosigkeit und gegen den Westen in Rußland richtet. Die darauf aufbauenden politischen Ideologien, seien sie kommunistisch oder rechtsextremistisch, überschneiden sich entsprechend. Die Kommunisten sind zuweilen antisemitisch und die Faschisten antikapitalistisch. Die - aus westlicher Perspektive - überraschendsten Kooperationen sind möglich. Aber sie bleiben prekär, weil jeder Führer einzigartig sein will.

Vergegenwärtigt man sich den Ausgangspunkt, die früheren freien Wahlen, dann wird eine langsame Entwicklung hin zu institutionalisierten Strukturen, die Orientierungen ermöglichen und präzisieren, erkennbar. Die freien Wahlen der sowjetischen Endzeit krankten daran, daß Kandidaten und politische Gruppierungen schwer einzuschätzen waren. Die Zusammensetzung des ersten frei gewählten Kongresses der Volksdeputierten war selbst nach der Veröffentlichung der Wahlergebnisse kaum zu erahnen. Denn es gab kaum identifizierbare Parteien. Erst Abstimmungen im Parlament ermöglichten allmählich begründete Vermutungen darüber, was gewählt worden war.

Die Überfülle von Gruppen, Vereinigungen und Parteien, deren unablässige Tendenz sich weiter zu spalten, zusammenzuschließen, brüchige Koalitionen zu bilden oder spurlos zu verschwinden, verhinderte zunächst eher den Aufbau stabiler Orientierungen. Als politische Orientierungspunkte blieben damit vor allem herausragende Persönlichkeiten übrig, allen voran der jetzige Präsident Rußlands, Jelzin. Der Platz vor der Kamera, der Bericht in den Medien wurde eine Frage des politischen Überlebens. Die personalisierende Strategie der Medien hat ein zumindest gleiches Gewicht wie in den USA. Wer berühmter Politiker werden will und kein Amt hat, das ihn öffentlich sichtbar macht, muß es daher auf anderem Wege versuchen. Der öffentliche Skandal, dessen Mechanismen der Populist Shirinowskij meisterhaft beherrscht, ist ein besonders beliebtes Mittel. Die politischen Auseinandersetzungen im Parlament und in der Öffentlichkeit wurden unterhaltsamer und vulgärer. Es war gut zu erkennen, daß Politik als ein schmutziges Geschäft verstanden wurde, wobei der nichtöffentliche Teil des Geschäftes eine besondere Bedeutung erhielt.

Im Oktober 1993 veränderte der von Jelzin veranlaßte Sturm auf das Parlamentsgebäude die Situation entscheidend. Dem äußeren Anschein nach handelte es sich um einen Machtkampf zwischen dem demokratisch oder zumindest reformorientierten Präsidenten und den machthungrigen Führern einer dominierenden Gruppe von nationalistischen, reformfeindlichen und verantwortungslosen Fanatikern. Paradoxerweise wurde die Entmachtung und Auflösung des Parlaments mitsamt ihren militärischen Begleitumständen als Sieg der liberalen Demokraten gegen einen reaktionären Putschversuch interpretiert.

Angesichts dieses scheinbaren Sieges der liberalen Demokraten waren die Entwicklungen, die nach der Entmachtung des alten Parlaments einsetzten, ernüchternd. Die Neuwahlen im Dezember 1993 brachten keinen Sieg der Reformer, sondern ihre Niederlage. Das neue Parlament war eher noch antiliberaler als das alte. Es wurde deutlich, wie isoliert die Liberalen waren. Tatsächlich verstieß Jelzin bald seinen Ministerpräsidenten, den radikalen Wirtschaftsreformer Gajdar, und holte Viktor Tschernomyrdin, der als ehemaliger führender Energiemanager einen wichtigen Teil der alten Führungsschichten repräsentieren konnte: die sowjetischen Wirtschaftsführer. Das versprach eine Verlangsamung der Reform, eine verstärkt autoritäre Führung aber auch ein intimes Wissen um das Funktionieren der fortbestehenden und noch unentbehrlichen Verwaltungsstrukturen. An die Stelle liberaler Schocktherapie trat ein reformerischer Pragmatismus, der versuchte, die Situation zu stabilisieren.

Dieser Wandel an der Staatsspitze war Teil einer umfassenderen Kräfteverschiebung. Im Lande mochten die Liberalen immer eine Minderheit gewesen sein, in den großen Städten aber waren sie sehr aktiv gewesen und hatten das politische Leben dominiert. Die vielen liberalen Gruppen und Initiativen, ihre Bereitschaft, öffentlich zu demonstrieren und ihre Zeit für Ziele zu opfern, die sie für wichtig hielten, haben das Bild Rußlands in der Spätzeit der Perestrojka und nach dem Untergang der Sowjetunion geprägt. Nun waren die Aktiven der Frühzeit zunehmend ernüchtert; sie resignierten und zogen sich zurück. Die "schmutzige" Politik hatte wieder einmal uneigennützige Idealisten zurückgedrängt. Schon vor der Invasion Tschetscheniens begann sich die ehemals begeisterte Anhängerschaft von ihrem Präsidenten abzuwenden. Die Invasion zeigte, wie sehr sich Jelzin inzwischen auf den Kreis seiner Berater konzentriert und so isoliert. Diese Berater waren und sind loyal insofern, als sie ohne Jelzin ins politische Nichts fallen würden. Öffentlich zweifelhaft aber sind ihre politische Integrität, ihre Klugheit und ihre moralischen Skrupel. Sie passen zu einem Präsidenten, dessen politisches Grundmotiv die Macht selbst und sonst nichts ist.

Obwohl das neue Parlament in seiner politischen Zusammensetzung dem alten weitgehend entsprach, und obwohl es im Zuge der Verfassungsreform weitgehend zugunsten des Präsidenten entmachtet worden war, bleibt es dennoch ein wichtiges Forum. Hier können Abgeordnete medienwirksam andere ohrfeigen oder mit Schreckschußpistolen fuchteln. Wladimir Shirinowskij gelang es in dieser Umgebung, einen eigenen und neuartigen Typus von Politiker zu kreieren, für den es bislang keine Vorbilder gegeben hat.

Von diesem unübersichtlichen Ausgangspunkt aus begann die bunte Szenerie sich jedoch schrittweise zu strukturieren. Mit vielen Übergängen und politischen Verwerfungen wurden einige große gesellschaftspolitischen Interesse erkennbar, von denen sich einige allmählich mit politischen Organisationen verbinden. Dieser Prozeß ist noch nicht abgeschlossen. Er wird von politischen Strömungen überlagert, die eher ideologisch oder milieuspezifisch geprägt sind. Beides verbindet sich zu umfassenderen politischen Orientierungen, die sich in bestimmten Organisationen und um sichtbare Personen herum kristallisieren können.

Das im Westen besonders bekannte Lager, das der Liberalen, ist nicht völlig verschwunden, wenn auch geschwächt. Die Volksstimmung ist ihm nicht wohlgesonnen. Die ehemals Überzeugten und aktiven Anhänger haben in großer Schar resigniert. Allerdings sollte man die Liberalen auch nicht unterschätzen. In den kommenden Wahlen werden sie vor allem von zwei Parteien repräsentiert. "Rußlands Wahl" ist die Partei von Jegor Gajdar, dem ehemaligen Ministerpräsidenten Jelzins. Sie steht für dessen radikale Liberalisierungspolitik bis 1993 und ihre wirtschaftlichen und sozialen Konsequenzen. Bei den Duma-Wahlen 1993 erreichte sie 15,4 Prozent, eine neueren Umfrage zufolge könnten es jetzt 11,4 Prozent werden.(1) Die zweite liberale Gruppierung, die Partei "Jabloko" von Grigorij Jawlinskij, versucht jene Liberalen zu sammeln, die von Gajdar abgeschreckt worden sind. Schon zu Gorbatschows Zeiten war Jawlinskij als Reformer aufgetreten, der die Reformen immer mit sozialen Hilfsmaßnahmen absichern wollte. Seine Haltung zu seinem Konkurrenten Gajdar und seiner Partei besteht entsprechend in der Distanzierung von der "Schocktherapie" und vom "Kahlschlag". Den Prognosen zufolge liegt "Jabloko" bei 18 Prozent. Es hatte 1993 nur 7,8 Prozent erreicht. Nun hat "Jabloko" offenbar "Rußlands Wahl" überrundet. Etwa ein Drittel der Wähler würde den Prognosen zufolge noch für liberale Kandidaten oder Parteien stimmen. Die soziale Basis ist vor allem bei jenen zu orten, die das alte System aus prinzipiellen Gründen ablehnen, die also die demokratische Bewegung fortsetzen und bei jenen, deren berufliche Aktivitäten auf die Wirtschaftsreformen angewiesen sind.

Andere Parteien repräsentieren in unterschiedlichen Aspekten das "patriotische" Lager. Die größte Rechtspartei bilden zweifellos die "Liberalen Demokraten" Shirinowskijs. Er hat sich nicht nur durch seine öffentlichen Inszenierungen bekannt gemacht. Gerade weil er bedenkenlos populistisch agiert, spiegeln seine Stellungnahmen ein in der Bevölkerung vorhandenes politisches Potential. Seine Rhetorik richtet sich natürlich erst einmal auf die wirtschaftliche und soziale Not, auf das Verbrechen und die öffentliche Unsicherheit. Darüber hinaus greift er einen Gedanken auf, der das ganze patriotische Lager durchzieht: die Wiederherstellung der Sowjetunion. In einer gemäßigten Variante geht dieser Gedanke von einem slawischen Zusammenschluß Rußlands, Belorußlands, der Ukraine und Teilen Kasachstans aus. Etwas weniger gemäßigt ist der Gedanke einer integralen Wiederherstellung der Union, so wie sie ihrer Idee nach bestanden hatte. Die weitestgehenden und gegenwärtig populärsten Vorschläge sehen die Herstellung eines russischen Einheitsstaates in den Grenzen der Sowjetunion vor, möglicherweise unter Einschluß Finnlands. Auf seinem Ziel eines russischen Vordringens zum Indischen Ozean hat Shirinowskij in den letzten Monaten nicht mehr bestanden.

Den Umfragen zufolge könnten die Liberaldemokraten Shirinowskijs bei den nächsten Wahlen von 23 auf 11 Prozent abrutschen. Die Prognose könnte sich als falsch erweisen: Es könnte sein, daß viele potentielle Wähler sich nicht trauten, den Interviewern ihre wahre Parteipräferenz zu offenbaren. Ein anderer Teil könnte zu anderen rechtsextremen Parteien übergehen, wie der "Russischen Nationalen Einheit" von Aleksandr Barkaschow, der in etwa 350 Ortsgruppen ehemalige "Pamjat"-Mitglieder gesammelt hat. Seine Organisation lehnt sich ideologisch sehr stark an den deutschen Nationalsozialismus an, nicht nur in der Wahl eines leicht variierten Hakenkreuzes als Emblem, sondern auch in der Übernahme seiner rassistischen und eugenischen Elementen. Mordlust und die Lust, sich zu unterwerfen, sind es, die potentielle Anhänger anziehen. Nur scheinbar weniger extremistisch ist die Nationalrepublikanische Partei Rußlands. Wie Shirinowskij unterstützte ihr Vorsitzender Nikolaj Lysenko den Einmarsch in Tschetschenien und kritisierte dessen dilettantische Ausführung. Lysenko machte sich dadurch bekannt, daß er in einer Duma-Sitzung vor laufender Kamera eine ukrainische Fahne zerriß. Natürlich wurde daraufhin im ukrainischen Parlament eine russische Fahne zerrissen. Das patriotische Lager ist mit all diesen kaum seriösen und noch weniger seriösen Organisationen noch nicht vollständig beschrieben. Die Eitelkeit ihrer Führer, der unreife Fanatismus ihrer Anhänger und die Exzentrik ihrer Aktionen könnten sie eher als folkloristische Dekorationen eines ungefestigten politischen Systems erscheinen lassen.

Aber man sollte sie auch nicht unterschätzen. Sie repräsentieren herrschende Stimmungen und verbreiten Einstellungen, die bei anderen, scheinbar gemäßigteren Kräften ebenfalls auftauchen. Die Behauptung, es gebe eine westlich-demokratisch-jüdischen Verschwörung gegen Rußland, das russische Volk sei Opfer eines Genozids, ist im Kontext der gegenwärtigen Rhetorik ebenso wenig exotisch wie Haßpropaganda gegen Moslems und vor allem die Kaukasusvölker. "Faschismus", sofern er ein negativer Begriff geblieben ist, wird mit Russophobie" gleichgesetzt. Der Kampf gegen den Faschismus ist aus dieser Sicht identisch mit dem Kampf gegen die russophoben Mächte dieser Welt: die Amerikaner, die Juden, die Tschetschenen, die Tataren und die Liberalen im eigenen Land.

Auf diesem diskursiven Untergrund können gemäßigtere Tendenzen aufbauen. Wie oft in derartigen Konstellationen besteht Mäßigung in der Rücknahme von Extremen und in Zweideutigkeiten, die auch anders ausgelegt werden können. Unter diesen gemäßigteren Gruppen ist die Kommunistische Partei der Russischen Föderation (KPRF) die bedeutendste. Nun könnte sie sich in den Wahlen als die bedeutendste Partei des Landes herausstellen. Sie ist als kommunistische Opposition gegen Gorbatschows KPdSU schon 1990 gegründet worden, veröffentlichte 1991 ein "Wort ans Volk", das als Aufruf zu einem Militärputsch gelesen werden konnte und wurde nach dem Putschversuch des gleichen Jahres für kurze Zeit verboten. Ein neues kurzfristiges Verbot kam 1993 nach der Erstürmung des Parlaments. Die KPRF hatte sich gegen Jelzin gestellt

. Tatsächlich ist sie heute organisatorisch die eigentliche Nachfolgerin der KPdSU. Sie verfügt über ein lückenloses Organisationsnetz in ganz Rußland, über den umfangreichsten Mitgliederstamm, darunter viele erfahrene sowjetische Verwaltungsleute. Stimmen die Prognosen, könnte sie über ein Viertel der Stimmen erreichen; bei den Wahlen 1993 waren es erst 12 Prozent. Wie viele Nachfolgerinnen der ehemals herrschenden kommunistischen Parteien in Osteuropa hat auch die KPRF ihr Profil gewandelt und ähnlich wie ihre Schwesterparteien in Tschechien, der Slowakei und Serbien mit extrem nationalistischen Aspekten angereichert. Ihr Vorsitzender, Gennadij Sjuganow, ein ehemaliger Lehrer, hat nicht nur mit General Gromow und dem berüchtigten Schriftsteller Aleksandr Prochanow, der "Nachtigall des Generalstabs" gemeinsam 1991 das "Wort ans Volk" veröffentlicht, er hat kontinuierlich auch in antisemitischen Organen publiziert. 1992 gehörte er zum Vorstand der rechtsextremistischen Gesellschaft "teschestwo" (Vaterland). 1993 wurde er fast einstimmig zum Vorsitzenden der KPRF gewählt. Auf Anhieb führte er seine Partei während der Wahlen von 1993 auf den dritten Platz nach Shirinowskijs Liberaldemokraten. Öffentlich verwendet Sjuganow sowohl rechtsextreme Topoi wie auch gemäßigte. Er bleibt darin ambivalent, ob Rußland im monoethnischen Sinne russisch (russkij) oder im multiethnischen staatlichen Sinne russisch (rossijskij) sein soll. Er greift die in den Wirtschaftsreformen entstandenen sozialen Nöte auf und fordert ein Ende der "Zwangsprivatisierungen", aber er will auch das private Eigentum und die private Wirtschaft fördern. Gleichzeitig möchte er das staatliche Außenhandelsmonopol wiederherstellen. Es soll eine positive Anknüpfung an die sozialistische Vergangenheit einschließlich Stalins geben, aber der Schutz der ethnischen russischen Kultur setzt die besondere Förderung der Orthodoxen Kirche voraus. Der Kommunismus der KPRF und Sjuganows speist sich aus dem Geist der nationalen Kirche.

In diesen Ambivalenzen, bei denen immer auch die relative Größe und organisatorische Effizienz der Partei und die fachliche Kompetenz vieler ihrer Mitglieder zu bedenken ist, liegt ein Grund dafür, daß Sjuganow und seine Partei nicht nur als Konkurrent im patriotisch-rechtsextremen Lager auftauchen, sondern auch für viele Liberale attraktiv werden, die sich mehr fachliche Kompetenz im politischen Leben erhoffen.

Sollte Sjuganow diese Wahlen tatsächlich gewinnen, wäre er ein mehr als ernst zu nehmender Konkurrent für Jelzin bei den Präsidentschaftswahlen im Juni 1996 - falls sie dann stattfinden.

Wie stark die Position Sjuganows inzwischen dank der gewandelten Stimmung ist, zeigen nicht nur Umfragen, sondern auch die unvollkommene Wirksamkeit der Gegenstrategien Jelzins und seiner Berater. Seit Beginn seiner politischen Karriere außerhalb der KPdSU hat sich Jelzin als ein Repräsentant des ganzen Volkes dargestellt. Er gründete keine Partei und schloß sich keiner an, weil er nicht als Repräsentant einer Fraktion erscheinen wollte. Solange sich Jelzin auf die Unterstützung einer breiten liberalen Öffentlichkeit verlassen konnte und solange sein charismatischer Bonus noch nicht durch die Verhältnisse ruiniert war, konnte er zugleich demokratisch und ungebunden sein, ohne seine Macht zu gefährden. Das änderte sich, als sich seine liberale Anhängerschaft enttäuscht abwandte und schrumpfte, als er sich gezwungen glaubte, mehr und mehr auf "patriotische" Einstellungen Rücksicht nehmen zu müssen, und als sich sein Beraterstab mehr und mehr auf die Sicherheitsressorts konzentrierte, die entsprechend mächtiger wurden. In diesem Beraterstab entstand die technisch raffinierte Idee, nicht eine, sondern zwei Organisationen zu gründen, die den Präsidenten politisch unterstützen könnten: eine der rechten und eine der linken Mitte. Gründender Vorsitzender des rechten Zentrums wurde Premierminister Wiktor Tschernomyrdin mit seiner Partei "Unser Haus Rußland". Sie war nicht vollkommen erfolglos, da Tschernomyrdin unter den Managern der ehemals sowjetischen Industrie Prestige genoß und deren Interessen in vernüftigem Maße repräsentieren konnte. Immerhin hat sich der gemäßigte Premier gegen Sjuganow zu behaupten, der die Stimmung gegen Jelzin mobilisieren konnte.

Ein Mißerfolg hingegen war tendenziell die Gründung des linken Zentrums unter dem Parlamentsvorsitzenden Iwan Rybkin. Seine schillernde Persönlichkeit stand nicht nur für das politische Leben Rußlands heute überhaupt, sondern besonders für jene, die nach dem Verschwinden der Liberalen den Präsidenten umgaben. Ursprünglich war die politische Heimat Rybkins die kommunistische Fraktion in der Duma. Als deren Mitglied gehörte er 1993 noch zu den Besetzern des Parlamentsgebäudes. Nach den Wahlen von 1993 wurde er mit den Stimmen der Agrarpartei, der Kommunisten, von Shirinowskijs Liberaldemokraten, der Demokratischen Partei und der Frauen Rußlands zum Parlamentsvorsitzenden gewählt. In dieser Funktion zeigte er dem Präsidenten sofort seine Kooperationsbereitschaft. Zur Belohnung wurde er in dessen Sicherheitsrat, das mächtigste politische Gremium des Landes berufen. Es war unter diesen Umständen vorhersehbar, daß die Liberalen Rybkin kaum als eine Führungsgestalt für sich akzeptieren würden.

Auch andere Einflußnahmen waren denkbar. Unter juristisch triftigen, aber kleinlichen Begründungen wurden Anfang Oktober die "patriotische" Partei "Dershawa" (Großmacht) und die "Jabloko" wegen formeller Mängel von den Wahlen ausgeschlossen. "Dershawa" ist die Partei des ehemaligen Vizepräsidenten Aleksandr Ruzkoj, der seine Rebellion gegen Jelzin mit Gefängnis gebüßt hat. Vor allem gegen das Verbot von "Jabloko", der einzigen aussichtsreicheren liberalen Partei, erhob sich öffentlicher Widerspruch, der schließlich berücksichtigt wurde. Anfang November wurden beide Parteien durch das Oberste Gericht doch noch zugelassen. Angesichts des juristischen und organisatorischen Chaos kann das nur wenig überraschen. Es erhält seine Bedeutung allerdings in einer Gesamtkonstellation von Unterstellungen, in denen der Staatsführung illegale Tricks wie selbstverständlich zugetraut werden.

Das hatte sich auch in den Diskussionen um das Wahlgesetz gezeigt. Der Ausschluß von "Jabloko" und "Dershawa" war beschlossen worden, weil es beiden Parteien nicht gelungen war, die für eine Zulassung vorgeschriebenen 200000 Unterschriften im ganzen Lande zu sammeln. Ihre Mitglieder konzentrieren sich weitgehend auf Moskau und St. Petersburg. Natürlich waren die Parteien auch schlampig. Insgesamt wurde das Wahlgesetz auf Grund eines Kompromisses zwischen Parlament und Präsident vereinfacht. Nach seiner Fassung von 1993 ging die Hälfte der 450 Sitze an Sieger in den Wahlkreisen, die andere Hälfte wurde über Parteilisten bestimmt. 1990 waren Parteilisten noch nicht vorgesehen. Jelzin hätte die Zahl der nichtparteigebundenen Abgeordneten gern erhöht, da er sich selbst ja nicht auf Parteien stützen konnte. Er wußte zudem, daß eine Wahl von Parteien die Parteiführer in einer Weise bekannt und möglicherweise beliebt macht, die er als Präsident nicht kontrollieren kann. Die Vertreter des Parlaments wünschten ihren Interessen entsprechend einen höheren Anteil der Parteien. Auch in der Frage einer Zulassung der Einzelkandidaten der Wahlkreise kam es zu einem Kompromiß. Sie benötigen nun die Unterschriften von nur einem Prozent der Wähler zu ihrer Zulassung. Jelzin hatte erheblich mehr gefordert.

Wahrscheinlich wird die Kommunistische Partei relativ stärkste Kraft im Lande werden. Sie wird diese Stimmen wahrscheinlich vor allem aus zwei unterschiedlichen Töpfen nehmen, dem der Liberaldemokratischen Partei Shirinowskijs einerseits und dem der sozialdemokratisch-liberalen Jabloko andererseits. Das Profil der KPRF wird dadurch nicht präziser. Sjuganow muß zwei Tendenzen zusammenbinden, die allem Augenschein nach nicht zusammenpassen.

Aber er hat einen Vorteil: Er braucht kein verantwortliches Amt zu übernehmen und sich in ihm verbrauchen. Er kann sich so als ernster Konkurrent Jelzins bei den nächsten Präsidentschaftswahlen stabilisieren. Bis dahin darf er reden und öffentliche Auftritte haben. Das russische Publikum nimmt Widersprüche nicht krumm. Hauptsache, die Politiker sagen auch mal das, was die Zuhörer denken. Aber das ist überall so.


(1) Ronald J. Brym, Voters Quietly Reveal Greater Communist Leanings, in: Transition, Vol. 1, No. 16, 8.9.95, 32-35.
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Kommune Dezember 1995