Die "Konvergenzkriterien"

Oft genannt und im Maastrichter Vertrag festgelegt, muß man sie dennoch immer wieder aufführen. Nach Meinung des britischen EU-Kommissars Leon Brittan haben sie in den letzten Jahren ihre heilsame Wirkung bereits bewiesen, selbst wenn es zu keiner Währungsunion käme.

Inflation: Die durchschnittliche Inflationsrate während des letzten Jahres vor der Prüfung darf nicht mehr als 1,5 Prozent
über dem Durchschnitt der höchstens drei preisstabilsten Länder der EU liegen.

Zinsen: Die durchschnittlichen langfristigen Zinsen während des letzten Jahres vor der Prüfung dürfen nicht mehr als 2
Prozent über dem Durchschnitt der höchstens drei preisstabilsten Länder der EU liegen.

Budgetdefizit: Das geplante oder tatsächliche staatliche Budgetdefizit auf allen Staatsebenen, ohne Erträge aus
Privatisierungen von Staatsbetrieben, aber inklusive Arbeitslosen- und Pensionskassen, darf nicht mehr als 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) betragen.

Staatsschulden: Die Staatsschulden dürfen nicht mehr als 60% des BIP betragen.

Wechselkurse: Einhalten der normalen Bandbreite im EWS ohne größere Probleme während mindestens zwei Jahren

vor Beginn der Währungsunion. Insbesondere ist eine Abwertung aus eigener Initiative in dieser Zeitspanne untersagt.

Bei Beginn der dritten Stufe der Währungsreform ist bei allen beteiligten Staaten die Unabhängigkeit ihrer Zentralbank von der Regierung vorausgesetzt.

Die erste Stufe der Währungsreform hat mit Inkrafttreten des Maastrichter Vertrags begonnen, die zweite wurde mit der Einrichtung des Europäischen Währungsinstitutes in Frankfurt erreicht. In ihr befindet sich gegenwärtig die EU. Nur zwei ihrer Mitgliedsstaaten erfüllen gegenwärtig bei strenger Auslegung alle fünf Kriterien: Luxemburg leicht, die Bundesrepublik schlecht und recht. Die dritte Stufe wird mit der Auswahl der Teilnahmeberechtigten vorbereitet und mit der Fixierung des dauerhaften Verhältnisses ihrer Währungen zu der einheitlichen Währung erklommen. Auf ihr geht es dann, ab dem 1.1.99 um die technische Umstellung der gemeinsamen, aber in unterschiedlichen Geldzeichen ausgedrückten Währung auf ein einheitliches Geldzeichen.

An den Konvergenzkriterien fällt auf, daß sie sich alle nur auf Geld-Geld-Verhältnisse beziehen, also zum Beispiel nicht auf die Entwicklung der Lohnstückkosten, in denen sich das Verhältnis zwischen produzierter Ware, der Zeitdauer ihrer Produktion und den Lohnkosten dieser Zeit bezogen auf eine Stunde Produktion ausdrückt. Über die reale Konvergenz der Produktionsbedingungen würde sie mehr aussagen als die vereinbarten Kriterien. Sie würde auch zu erkennen geben, um was es bei der Währungsunion letzten Endes geht, nämlich um die Verbesserung der Konkurrenzverhältnisse zu anderen Teilnehmern des Weltmarktes. Die ist nur zu erreichen durch überproportionale Steigerung des Produktionsergebnisses einer durchschnittlichen Arbeitsstunde gegenüber ihren Lohnkosten. So direkt konnte man das nicht vertraglich vereinbaren. Wegen der allseits geltenden Tarifautonomie bei unterschiedlichen Tarifverhältnissen in den einzelnen Ländern haben die EU wie auch ihre einzelnen Mitgliedsstaaten auf die Entwicklung der Lohnstückkosten keinen direkten Einfluß. Einfluß haben sie nur indirekt über die Geld- und die Finanzpolitik.

Man kann die vereinbarten Kriterien hierarchisch verstehen. Ziel ist eine Preisstabilität, die vor allem über Lohndisziplin erreicht werden soll. Lohndisziplin erreicht man, indem man die Nachfrage nach Arbeit nicht über staatliche Programme fördert, sondern in erster Linie von privaten Investitionen abhängig macht, also über niedrige langfristige Zinsen fördert, die nicht umsonst am Durchschnitt der preisstabilsten Länder gemessen werden. Beste Voraussetzungen für niedrige Zinsen wiederum schafft eine Beschränkung des staatlichen Handlungsspielraums zur Stimulierung der Kaufkraft über Lohnerhöhungen für seine Angestellten oder staatliche Arbeitsbeschaffungsprogramme. Daher Beschränkung der Budgetdefizite, die nur zu Zinserhöhungen führen können. Da die Defizite die Staatsschulden aufblähen und Schulden inflationäre Interessen des Staates fördern könnten, müssen sie beschränkt werden. Da Abwertungen das Mittel sein könnten, um unter Konkurrenzgesichtspunkten unzulässige Lohnerhöhungen abzufedern, müssen sie unterbunden werden.

Egal, ob die Konvergenzkriterien in eine Währungsunion führen, sie fördern allemal eine gleichartige Wirtschaftspolitik. Sie für obszön zu erklären ist leichter als sie als verfehlt zu enthüllen. Wenn man sich nicht mächtig genug fühlt, den Zwängen des Weltmarktes die Versprechen der Weltrevolution entgegenzuhalten, wird man sich vor allem fragen müssen, ob die Währungsunion der politischen Integration Europas dient und damit die Handlungsfähigkeit auf einer europäischen Ebene verbessert. Die Antwort kann nur so zwiespältig sein, wie die Eindeutigkeit der Konvergenzkriterien nur vorgetäuscht ist. In Wirklichkeit wird die europäische Vereinigung, solange sie Ziel der Regierungen bleibt und nicht durch eskalierende Nationalismen ausgeschlossen wird, Verhandlungs- und Streitsache bleiben. In der Praxis wird sie durch gesellschaftliche und politische Bewegung und nicht durch scheinbar klare Lösungen vorangetrieben. Eben deshalb aber ist jede europäische Form, die diese Bewegung aufnehmen und gestalten kann, zu nutzen und nicht von vornherein zu verwerfen.

Unser neuer Bundespräsident, der den alten im politischen Feeling fast schon übertrifft, sagte einfach: "Heute mögen die Römischen Verträge angesichts der Debatte über die Durchführung des Maastrichter Vertrags schon fast vergessen sein. Damals waren sie eine europäische Revolution mit wirtschaftlichen, außenpolitischen und vor allem geistigen Folgen, von denen wir noch heute profitieren. Es wurde ein Modellversuch für die Welt."

Dieser Permanenzerklärung der Revolution durch den obersten Repräsentanten der Bundesrepublik muß man höchstens hinzufügen, daß heute zum erstenmal Reaktion und Restauration zu befürchten sind.

Man kann sicher behaupten, die europäische Integration auf Grund der Römischen Verträge sei die erste sanfte Revolution gewesen, die alle weiteren erst ermöglicht hat. Jetzt aber stößt sie an eine hohe Hürde, das Geld, das zugleich als allgemeines Medium alle Mauern zwischen den Staaten zu durchdringen vermag. Merkwürdig, daß ein Roman Herzog aussprechen muß, wir lebten in Zeiten permanenter Revolution. Wie sie freilich mit dem heiligen Versprechen auf unverrückbare und höchstens noch steigerbare Stabilität der Währung zu vereinbaren sein soll, bleibt rätselhaft. Internet ist eine Kleinigkeit gegenüber der Vernetzung, die gemeinsames Geld schafft.

js.


Zum Text: "Die Sache mit dem Euro" von Joscha Schmierer

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Kommune Dezember 1995